Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 30.11.1911, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_93
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 30.11.1911, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_93
Heidelberg, 30.11.11.
Lieber Freund und Kollege,
Endlich bekomme ich heute die lang erwarteten Separata[1], von denen Ihnen hierbei eines mit der Bitte um freundliche Aufnahme zugeht: es ist, wie ich dem Verleger und dem Herausgeber auf ihr anhaltendes Zureden vorhergesagt habe, zu den grossen Dramen (die freilich nicht alle in sehr hohem Stil abgefasst sind, – nur Baenschʼ Spinoza scheint mir sehr gut) eine Art von Satyrspiel[2] geworden: habeant sibi![3]
Leider ist nun heute mein bedrängter (Seminar-)Tag, und ich kann Ihnen nur kurz schreiben; ich bin Ihnen ja wieder viel Dank schuldig. Zuerst für den | Logos-Aufsatz[4], der mir in vielem Betracht grosse Freude gemacht hat. Wie sehr ich im Inhalt Ihnen zustimme, mögen Sie daraus ersehen, dass ich selbst im Aerger über die ewige „Erleberei“ eine kleine Skizze mir entworfen hatte, die den Titel führen sollte „vom Leben, Erleben und Ausleben“, von der aber ausser diesem Titel nur ein paar etwas scharfe Einfälle oder Ausfälle zu Papier gebracht waren, die nun im Papierkorb ihr Ende gefunden haben. Und was die Darstellung anlangt, so rechne ich sie in der wie Sie sagen populären Form zu dem Besten was Sie geschrieben haben. Vor allem aber ist damit dem Logos eine Wohltat geworden, dessen Leser doch wohl vielfach bei den früheren | Nummern, bei Husserlʼs und Ihrer großen Abhandlung[5] sagen durften: „Sie überschätzen mir.“[6]
Die Euphorion-Hypothese[7] interessiert mich sehr, aber ich muss mirʼs noch überlegen. Dass Faust in den gotischen Lauben eigentlich schon bei dem „Verweile doch, Du bist so schön“[8] angelangt ist, habe ich mir schon fragend vorgelegt: dass die Idylle durch die Tragik des Sohns deshalb gestört wird, weil das faustische Erbe in ihm zum Untergang führt, leuchtet ja sehr ein: aber wenn nur irgend ein minimaler Hinweis, die Spur einer Ahnung von Andeutung für diesen Zusammenhang durch die Wesensteilung im Stücke selbst oder in Goetheʼs Erläuterungen zur Helena gegeben wäre!! Nebenbei ein Wort über die | social-praktische Bedeutung des Schlusses! Das Praktische ist ja wohl klar und sicher, aber für das Sociale haben wir doch nur den Einen bekannten Vers. Im Uebrigen aber ist Faust bis zum Ende, ja bis zum Verse vorher die Herrennatur, die ja auch durch Philemon und Baucis noch auf das Stärkste unterschieden ist. Es ist und bleibt die inkalkulabelste aller Schöpfungen!
Doch nun genug; hoffentlich gehtʼs Ihnen gut. ich kann sehr zufrieden sein. Der Bronchialkatarrh, der mich zu meinem Schmerz vom Freiburger Feste fernhielt[9], ist glücklich vor Semesteranfang überwunden worden. Vorgestern habe ich sogar in Karlsruhe eine „wohltätige“ Vorlesung gehalten[10], zu der rührender Weise der Grossherzog erschien, obwohl er an dem Kammereröffnungstage[11] von 9 Uhr Morgens bis 7 Uhr Abends im strammen Dienst gewesen war.
Besten Gruss von Haus zu Haus!
Treulich Ihr
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
3↑habeant sibi! ] recte: habeat sibi, lat.: meinetwegen; nach 1. Mose 38,23 (vgl. Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes gesammelt u. erläutert v. Georg Büchmann. Fortgesetzt v. Walter Robert-tornow [!]. 22., verm. u. verb. Aufl. bearb. v. Eduard Ippel. Berlin: Haude & Spener 1905, S. 9).4↑Logos-Aufsatz ] vgl. Rickert: Lebenswerte und Kulturwerte. In: Logos 2 (1911/12), Heft 2, S. 131–166, sowie Windelband an Alfred Dove vom 29.11.19105↑Husserlʼs und Ihrer großen Abhandlung ] vgl. Rickert: Das Eine, die Einheit und die Eins. In: Logos 2 (1911/12), Heft 1, S. 27–79, sowie Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft. In: Logos 1 (1910/11), Heft 3, S. 289–341.6↑„Sie überschätzen mir.“ ] Redensart in Erinnerung an eine Anekdote, verschiedenen preußischen Militärs bei unterschiedlichen Gelegenheiten zugeschrieben, vgl. die Treffer in https://book.google.de (10.7.2018), lediglich in informellen Kontexten (wie z. B. Briefwechseln), ohne Quellenangaben nachgewiesen.7↑Euphorion-Hypothese ] Euphorion ist der Name des Sohnes von Faust und Helena in Goethe: Faust II. Windelband bezieht sich hier wahrscheinlich auf eine nicht überlieferte briefliche Äußerung Rickerts. In Rickerts Aufsatz Lebenswerte und Kulturwerte. In: Logos 2 (1911/12), Heft 2, S. 131–166 geht es nicht um dieses Thema.10↑in Karlsruhe eine „wohltätige“ Vorlesung gehalten ] vgl. Windelband: Über Mitleid und Mitfreude. [Vortrag 1911]. In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. 5., erweiterte Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1915, S. 195–217.▲