Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Straßburg, 10.3.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Straßburg, 10.3.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Strassburg, 10.3.03
Mein lieber Freund,
Dein liebes, ausführliches Schreiben[1] vom Herbst hat leider bisher auf seine Antwort warten müssen; es ist kein schönes Semester, das hinter mir liegt. In der Stimmung geteilt und nervös gemacht, von allerlei Arbeit in Anspruch genommen, die ich hier noch abschließen wollte und nun doch nur zum geringsten Teile abgeschlossen habe, bin ich noch mit meiner Familie einer schweren Influenza[2] anheimgefallen, die mich volle sechs Wochen gekostet hat, gerade um die Jahreswende herum. So bin ich wenig befriedigt und gehe in etwas heruntergekommenen Zustande, den der Umzug[3] auch nicht bessern wird, in das neue Dasein, worin man soviel von mir erwartet: Ich werde also im vollsten Sinne zu erproben haben, ob ich die Elastizität noch besitze, die ich mir zugetraut habe[4]. Es war | aber, wie Du weißt, kein Leichtsinn, sondern eine Notwendigkeit, die sich ja von Monat zu Monat immer deutlicher herausgestellt hat: und ich muß schließlich dankbar dafür sein, daß die Gelassenheit, mit der man mich gehen ließ, offenbar auf der sehr richtigen Einsicht beruhte, daß ich absolut nicht in die Zustände hineinpasse, die hier hereingebrochen und die Du schon damals so richtig gekennzeichnet hast.
Und nun, wie ist es Dir ergangen? wie geht es, und was hast Du für Reisepläne? Ich hoffe, daß Heidelberg für Dich mehr Anziehungskraft haben wird als Straßburg, – und ich freue mich auch in diesem Sinne darüber, daß ich dort Deine Nichte und ihren Mann[5] vorfinden werde. Ich habe beide einmal vor Jahren hier auf ein angenehmes Plauderstündchen mit Reitzenstein[6] zusammen gesehen, von Dieterich im vorigen Jahr bei der Philologen-Versammlung | einen vortrefflichen Vortrag gehört und hoffe auf ihn als einen tüchtigen Collegen um so mehr, als ich für meine ganze Richtung und Auffassung stets die Fühlung mit der klassischen Philologie als das Wichtigste angesehen habe.
Von der Affaire Lexis[7] habe ich allerdings durch meinen Sohn[8] gehört, der ja auch Pionier ist, wenn auch in dem andern Batailion[a]. Danach hast Du mit Deiner Beurteilung der Sache offenbar ganz genau das Richtige getroffen, und es ist nichts hinzusetzen. Die junge Frau war entschieden gesellig beliebt und galt als temperamentvolle, lustige Gesellschafterin, aber auch als entschieden eigenwilliges Wesen. Er dagegen scheint nicht – die Persönlichkeit gewesen zu sein, die ihr imponiren konnte: und so muß sich ein Verhältnis gestaltet haben, das schließlich für beide Teile unerträglich wurde. Irgendetwas besonderes ist nicht geschehen; vielleicht hat man vor seinem Abgang nach Berlin auch in den | nächsten Kreisen nicht geahnt, wie die Sachen standen: so gut war nach außen hin Alles gewahrt. Mein Sohn z. B. ist mit andern zusammen noch im Sommer dort eingeladen gewesen und hat mit ihnen Radelfahrten gemacht. Jetzt soll ja die Scheidung eingeleitet sein; aber wie es damit steht, darüber weiß auch mein Sohn Nichts. Eine unerfreuliche Angelegenheit, von der ich mir denken kann, wie sehr sie Dich betrüben[9] muß.
Der Winter hat uns noch zweimal zu Großeltern gemacht: ein drittes Töchterlein bei Elly, ein erstes bei Meta. So war meine Frau im ganzen Winter nur sechs Wochen hier und von diesen vier Wochen krank! Sobald sie reisen konnte, ging sie nach Schoeneberg[10] und kehrte erst Ende Februar zurück. Und nun geht’s an’s Packen – Ich grause mich davor: aber ich hoffe auf den neuen Frühling am Neckarstrand: am 7t April[11] soll dort ausgepackt werden.
Mit treuen Grüßen, auch von den Meinigen, allzeit Dein
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
5↑Deine Nichte und ihren Mann ] Windelbands Fakultätskollege Albrecht Dieterich (1866–1908) und seine Frau Marie, geb. Usener (geb. 1867), Tochter des Philologen Hermann Usener (1834–1905). Hermann Usener war mit der Schwester Diltheys, Caroline (Lily) (1846–1920) verheiratet (NDB; www.m-usener.de (30.5.2018)).6↑Reitzenstein ] Richard Reitzenstein (1861–1931), Klassischer Philologe, 1893 o. Prof. in Straßburg, 1911 in Freiburg, 1914 in Göttingen (NDB).7↑Affaire Lexis ] Anspielung nicht aufgelöst; u. U. geht es um Wilhelm Lexis (1837–1914, Nationalökonom, Finanzwissenschaftler), u. a. 1872 Prof. in Straßburg, 1876 in Freiburg, seit 1887 in Göttingen (NDB), bzw. um einen Sohn der Familie Lexis.11↑am 7t April ] bzw. am 6.4.1903, vgl. Windelband an Vincenz Czerny vom 1.4.1903 – jedenfalls rechtzeitig für eine zweitägige Großveranstaltung in Heidelberg: Für den 16.4.1903 ist die Teilnahme Windelbands an der 7. Versammlung deutscher Historiker belegt, vgl. Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 21 v. 23.5.1903, Sp. 1303.▲