Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 13.1.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_43
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Windelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 13.1.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_43
Strassburg iE. 13.1.03.
Lieber Herr College,
Alle meine Wünsche und Hoffnungen, in den Ferien nach Freiburg zu kommen und womöglich Sie dabei zu sprechen, sind durch die Influenza hinfällig geworden, die uns wieder einmal[1] gründlich, ja gründlicher denn je heimgesucht und mich immer noch nicht völlig wieder freigelassen hat. Sie hat mir diesmal in jeder Hinsicht einen ganzen Monat gekostet, und das ist mir angesichts alles Dessen, was ich mir für diesen unerfreulichen Schwebewinter[2] an Arbeit vorgenommen hatte, ganz besonders unerfreulich. Meine „Willensfreiheit“[3] abzuschließen, muß ich fast schon definitiv für jetzt aufgeben und froh sein, wenn ich den bequemen Gebrauch der litterarischen Hilfsmittel, welchen mir hier noch mein Seminar gewährt, noch dazu ausschlachten kann, den Comte zu vollenden[4].
So bin ich nun noch immer nicht dazu gekom|men, mich mit Ihnen mündlich, wie ich es wünschte, über die traurige Sache meiner Nachfolgerschaft[5] auseinander zu setzen. Der Standpunct der Fakultät und ihr scheinbar opportunistisches Vorgehen, das ich, wie Sie wissen, nicht so verurteilen kann, wie es vielfach bei rein äußerer Betrachtung geschieht, – dieser Standpunct und der meiner persönlichen Wünsche, auf die ich dabei resigniren mußte, sind völlig voneinander zu trennen. In letzter Hinsicht haben Sie in Ihrem Briefe[6] – leider! – das Richtige durchaus erkannt. Was Sie über meine Aussicht, Sie hier zu meinem Nachfolger zu haben, damals äußerten, trifft völlig zu und trifft damit zugleich den Kern der ganzen Sache. Die Kugel, die ich hier achtzehn Jahr am Bein gehabt habe, hat mich auch dabei noch ge|lähmt, und die Aussicht, davon frei zu werden, die auch bei meinen Entschlüssen mitgewirkt hat, ist jetzt erst recht eine Wohltat für mich. Diese Kugel bestand aber keineswegs allein in einer einzelnen Persönlichkeit[7], sondern vor allem an der dauernd verletzenden Resonanz, welche diese bei der Urteilslosigkeit und bei anderen Tugenden anderer Leute fand. Daran habe ich seit Jahren hier innerlich und im Stillen gekrankt: und das sage ich auch nur Ihnen, weil ich weiß, daß Sie es keinem Anderen weitersagen werden. Näheres darüber einmal mündlich!
Aber wissen Sie denn, daß Sie vielleicht indirect doch noch in diesen Umsturz verwickelt werden sollen? Auch dies, bitte, unter uns! An Bäumkerʼs Stelle sind in Bonn, soviel ich aus guter Quelle weiß, vorgeschlagen Hertling[8], Dyroff und Uebinger[9]! Sie haben eben keine andern Leute. Das es nun | doch sehr möglich ist, daß Hertling als politischer Agent die Mußetage, die ihm seine Stellung als commis voyageur[a][10] des Centrums läßt, lieber in München – nahe bei der Nuntiatur[11]! – zubringt als in Bonn, so kann es leicht kommen, daß Ihnen Ihr harmloser Fachgenosse[12] abspenstig gemacht und die Unbequemlichkeit auferlegt wird, in die immer enger und immer trauriger werdende Auswahl einzutreten. Ich will Ihnen sehr wünschen, daß dieser Kelch an Ihnen vorübergehe[13]!
Haben Sie Riehlʼs „Philosophie der Gegenwart“[14] gelesen? ich bin erstaunt, wie nahe er mir gekommen ist: manchmal, und gerade an Hauptpuncten, braucht man nur am Ausdruck ein paar Striche zu ändern, und wir stehen dicht neben einander!
Hoffentlich komme ich in ein paar Wochen zu einer Fahrt nach Freiburg[15]. Inzwischen empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau Gemahlin – meine Frau ist seit heut in Berlin Schöneberg[16] – und seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem getreuen
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Schwebewinter ] zwischen der auslaufenden Professur in Straßburg u. der anzutretenden in Heidelberg4↑Comte zu vollenden ] Windelband hatte sich verpflichtet für: Comte. Stuttgart: Frommann (E. Hauff) (Frommanns Klassiker der Philosophie. Hg. v. Richard Falckenberg). Angekündigt 1896 u. 1897. Nicht erschienen.7↑einzelnen Persönlichkeit ] vermutlich Anspielung auf Windelbands unmittelbaren Straßburger philosophischen Kollegen, Theobald Ziegler.8↑Hertling ] Georg Hertling (1843–1919), geadelt 1914, später bayerischer Staatsminister und Reichskanzler, zunächst PD für Philosophie in Bonn (1867). 1875-90 und 1896–1912 Angehöriger des Deutschen Reichstags für die Zentrumspartei. 1882 ohne Mitwirkung der Philosophischen Fakultät zum o. Prof. für Philosophie an die Universität München berufen (NDB).9↑Uebinger ] Johannes Uebinger, der Nachfolger Adolf Dyroffs in Freiburg, vgl. Windelband an Rickert vom 17.3.1901.12↑harmloser Fachgenosse ] Adolf Dyroff (1866–1943), seit 1901 ao. Prof. in Freiburg, 1903–34 in Bonn o. Prof. für katholische Philosophie als Nachfolger von Clemens Baeumker (BEdPh).13↑dieser Kelch an Ihnen vorübergehe ] Anspielung auf Jesu Worte in Getsemani, vgl. Markus 14,36 und Matthäus 26,39.14↑Riehlʼs „Philosophie der Gegenwart“ ] vgl. Alois Riehl: Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. 8 Vorträge. Leipzig: B. G. Teubner 1903.15↑nach Freiburg ] ein Treffen fand im Januar/Februar 1903 statt, vgl. Windelband an Rickert vom 23.2.1903.16↑in Berlin Schöneberg ] bei der Tochter Meta, verheiratet mit Arthur Goette; vgl. Windelband an Karl Dilthey, Straßburg, 22.10.1902.▲