Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Wilhelm Dilthey, Straßburg, 16.7.1902, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey 45,38
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Wilhelm Dilthey, Straßburg, 16.7.1902, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey 45,38
Strassburg iE. 16./7 02
Hochverehrter Herr College
Besten Dank für die freundliche Zusendung der Revision für die „Vorrede“[1]: ich schicke sie hierbei mit einigen unvorgreiflichen formalen Aenderungsvorschlägen (mit rother Tinte)[a] zurück. Es ist sehr erfreulich, daß die Sache so weit gediehen ist, und ich beglückwünsche Sie dazu. Mich selbst bangt einigermaßen vor der Ausgabe der „Urteilskraft“[2]. Es ist eigentlich so garnicht meine Art und Arbeit; ich bin viel zu wenig Philologe. Nun hagelt es ja auch noch neue Ausgaben[3]. Ich denke, es wird doch nichts dagegen einzuwenden sein, wenn ich mir das Technische, Variantenverzeichnisse etc. von einem jüngeren[4], solcher Technik Gewachsenen machen lasse und dann das Ganze von mir aus durch- und überarbeite. Wann meinen Sie denn, daß man an eines der späteren Wer|ke, wie die „Urteilskraft“ wird gehen können? Die Briefe[5] sind ja nun da, sie bringen für meine specielle Aufgabe nicht viel. Aber die Vorlesungen und der Nachlaß sollten doch wohl in Betracht gezogen werden: wenigstens hat schon Schlapp’s Arbeit[6] gezeigt, wie starkes Licht sie darauf werfen. Wenn die Akademie Conferenzen veranstalten will, bin ich natürlich gern bereit, sofern sie nicht gar zu störend in die Vorlesungszeit fallen –
Die Entscheidung wegen Tübingen[7] ist mir sehr schwer geworden; es waren lauter incommensurable Gründe zu balancieren. Neben Sigwart, mit dem mich lange Freundschaft verbindet, eine sehr ausgebreitete Wirksamkeit zu haben, war schon verlockend genug, – die Anerbietungen von Stuttgart[8] | glänzend, – aber eine Notwendigkeit, viel zu lesen und nicht ohne Abhängigkeit vom Studienplan des „Stifts“[9]. Mir aber liegt, seit ich das „docendo discimus“[10] genügend genossen, mehr an der Concentration auf die Arbeiten, die meiner harren. Hier andrerseits viel Unbequemes[11], ruhige Arbeit Störendes Heterogenes: und doch ein Gefühl der Pflicht, nicht unnötig zu versagen, wo man 20 Jahre tätig und zweimal Rector war, – dagegen wieder das Bedenkliche, eine Ablehnung in meinen Jahren könne den Eindruck erwecken, als wollte ich mich für stabil erklären, – was mir sehr fern liegt. Es war eine Entscheidung von denen, wobei man sicher darauf rechnen kann, daß Tage kommen werden, an denen man sie, wie sie auch ausgefallen sein mögen, einmal bereut. Und manchmal kom|men schon jetzt solche Stunden: jedesmal, wenn man wieder irgendwie zu merken hat, wie schwankend und unsicher die hiesigen Zustände sind. –
Für die Ferien haben wir vor, etwa vom 10. August bis in die ersten Septembertage in die französische Schweiz zu gehen, vielleicht in die Nähe von Chamonix. Führt nicht Sie einmal Ihr Weg in unsre Nähe? es wäre schön, sich wiederzusehen[12].
Mit bestem Gruß und allen guten Wünschen für die Ferien getreulich der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑„Vorrede“ ] zur von Windelband herauszugebenden Kritik der Urteilskraft in der Berliner Akademieausgabe der Werke Kants.2↑Ausgabe der „Urteilskraft“ ] vgl. Windelband: Einleitung. Sachliche Erläuterungen. Lesarten [zur Kritik der Urteilskraft]. In: Kant’s Werke Bd. 5. Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Paul Natorp. Kritik der Urtheilskraft. Hg. v. W. Windelband. Berlin: Georg Reimer 1908 (Kant’s Gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1, Bd. 5), S. 512–527, 527–530, 530–543. 2. Abdruck Berlin: Georg Reimer 1913.3↑neue Ausgaben ] 1902 erschienen: Immanuel Kant’s Kritik der Urtheilskraft. Hg. v. Karl Vorländer. 3. Aufl. Leipzig: Dürr 1902 (Immanuel Kant Sämmtliche Werke. Hg. v. J. H. von Kirchmann Bd. 2,2. Philosophische Bibliothek Bd. 39); George S. A. Mellin: Marginalien und Register zu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft. Neu hg. und mit einer Begleitschrift Der Zusammenhang der kantischen Kritiken versehen v. Ludwig Goldschmidt. Gotha: Thienemann 1902.5↑Die Briefe ] vgl. Kants Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe: Bd. 10, Briefe 1747–1788, 1900; Bd. 11, Briefe 1789–1794, 1900; Bd. 12, Briefe 1795–1803, 1902 (sämtlich hg. v. Rudolf Reicke).6↑Schlapp’s Arbeit ] vgl. Otto Schlapp: Kants Lehre vom Genie und die Entstehung der „Kritik der Urteilskraft“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1901. Ein erster Teil erschien als Druck der Straßburger Dissertation von 1897 (bei Windelband): Die Anfänge von Kants Kritik des Geschmacks und des Genies 1764 bis 1775. Erster Teil einer Untersuchung über Kants Lehre vom Genie und die Entstehung der Kritik der Urteilskraft. Von Otto Schlapp, Dozent an der Universität Edinburgh. Göttingen: E. A. Huth 1899.8↑Stuttgart ] 1806–1918 Hauptstadt des Königreichs Württemberg; mit Sitz des übergeordneten Unterrichts-Ministeriums.12↑sich wiederzusehen ] ein persönliches Treffen ist nur für 1878 nachgewiesen, vgl. Kommentar zu Windelband an Georg Jellinek vom 26.8.1878.▲