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- TitleWindelband an Karl Dilthey, Straßburg, 15.11.1901, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Straßburg, 15.11.1901, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Strassburg i E. 15.11.01
Liebster Freund,
Deinen eben empfangenen lieben Brief beantworte ich umgehend, – pflichtgemäß geschäftig, mich selbst wie unsere ganze Fakultät zu schädigen: denn nicht nur ich sondern wir alle sind traurig genug, daß wir einen der beiden[1] werden hergeben müssen[a], – so sehr man es aus freundschaftlichem Gemüt Jedem, der es verdient, gönnen mag, daß er jetzt den Staub dieser Stadt von seinen Füßen schütteln darf!
Sollen wir uns nun also in diese beiden teilen, so wüßte ich nicht, was mir als das kleinere Unbill erschiene. Du hast Recht, wenn Du zwischen beiden Naturen eine Art von Contrast ansetztest.
Kommt es Euch auf Verve und packende Kraft an, so ist allerdings kein Zweifel, daß | Ihr diese Vorzüge in entschieden höherem Maße bei Schw.[b] findet: mit dessen stark temperamentvollem, oft schroffem, gelegentlich burschikosem Wesen habe ich mich sehr schnell ausgesöhnt, nachdem ich seine durch und durch lautere Gesinnung und seine Zugänglichkeit für alle verständigen Interessen und Argumente nicht nur im persönlichen Verkehr, sondern gerade auch bei der vortrefflichen Art, wie er sein Dekanat geführt und die Philologenversammlung[2] gedeichselt hat, genügend kennen gelernt habe.
K.[3] ist die stillere, weiblichere Natur, in der eine ungewöhnliche Gelehrsamkeit mit feiner Urteilskraft verbunden ist. In unserer Graeca[4], der beide angehören, sind sie uns beide, jeder in seiner Weise, äußerst wertvoll. Da ist auch K. höchst anregend und ausgiebig. Und nicht | nur, wenn wir Platon gelesen haben, sondern gerade auch bei den Dichtern (Euripides, Aristophanes, Aischylos) hat er in der engsten Weise mitgetan. Daß er in den Vorlesungen ihnen „ferner zu stehen“ scheint, hat besondre Gründe, für deren Andeutung ich bitte, Dir ganz vertraulichste Aufnahme ans Herz legen zu dürfen. Wenn ich recht gehört habe, so wünschte Kaibel[5], solange er hier war, nicht, daß K. über Dichter lese, sodaß dieser gegen seinen Wunsch wesentlich auf die Altertümer beschränkt wurde: er war erfreut, als er bei dem Wechsel die Möglichkeit erhielt, Dichter zu lesen, hat dabei aber natürlich, um Schw. nicht zu sehr in’s Gehege zu kommen, davon nur mäßig Gebrauch gemacht, – um so mehr, als es ihm (und auch andern!) wünschenswert erschien, daß er auf dem Felde der alten Geschichte nicht K. J. N.[c][6] sich allein breit machen ließe. Dies also ganz | unter uns! ich habe stets den Eindruck gehabt, daß er zu den Dichtern ein intimes Verhältniß hat und „Trockenheit“ würde ich in dieser Hinsicht nicht befürchten. Wenn seine Vorlesungen anfangs geringeren Anklang gefunden haben, so beruhte das wohl auf einer Eigentümlichkeit, die man auch in der Unterhaltung merkt: wenn er Einem Etwas auseinandersetzt, so reißt ihn sein großes Wissen leicht zu Exkursen fort, die zwar an sich interessant sind, aber vom Hauptthema leicht abführen. So kann ich mir leicht denken, daß die lehrhafte Beherrschung und Formulirung zumal anfangs, mit dem Umfang und der Gediegenheit seines Stoffes nicht gleichen Schritt gehalten hat; und der Student will nun einmal und braucht wohl auch, gerade das übersichtlich Geformte, das er fest nachschreiben und heimtragen kann[7]. Persönlich ist K. ein sehr angenehmer Umgang; ich denke gern an ein paar Wochen zurück, die ich im letzten Frühjahr in Baden bei Zürich zu gemeinsamer Rheumatismus-Kur[8] zubrachte, – wo man sehr aufeinander angewiesen war. – Damals stand ich 25 Jahre nach meinem Antritt in Zürich auf dem Uetli und dachte an Dich! – Wie schwer mir der Entschluss war, jetzt Euer Fest[9] zu versäumen, brauche ich Dir nicht zu sagen: aber daß mich die Wahl[10] sehr gefreut hat, will ich nicht verschweigen.
Herzlichsten Gruß – ich muß in’s Colleg eilen!
Dein alter
W Windelband[d]
Kommentar zum Textbefund
a↑müssen ] mit Einfügungszeichen auf dem Rand: NB! Von dieser Wahrscheinlichkeit wird hier schon ganz allgemein geredet!Kommentar der Herausgeber
1↑einen der beiden ] die klassischen Philologen Eduard Schwartz u. Bruno Keil (1859–1916, 1890 ao. Prof. in Straßburg, März 1901 o. Prof., 1913 nach Leipzig; NDB), von denen Schwartz (1858–1940), seit 1897 o. Prof. in Straßburg, 1902 einen Ruf nach Göttingen annahm (NDB).2↑Philologenversammlung ] vgl. Windelbands Beitrag: Zu Platon’s Phaidon. In: Strassburger Festschrift zur 46. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner. Hg. v. der Philosophischen Fakultät der Kaiser-Wilhelms-Universität. Strassburg: Trübner 1901, S. 287–297.4↑Graeca ] geselliger Zirkel von 8–9 Mitgliedern innerhalb der philosophischen Fakultät der Universität Straßburg seit den 1890er Jahren, dessen Mitglieder im privaten Rahmen zusammenkamen, um griechische Klassiker im Urtext zu lesen, daneben laut Meinecke eine Art regierende Innenzelle der philosophischen Fakultät. Mitglieder 1902: Eduard Schwartz, Harry Breslau, Friedrich Meinecke, Theobald Ziegler, Richard Reitzenstein, Adolf Michaelis, Windelband, Eduard Thämer. Platon stand auch im Mittelpunkt unserer Lektüre. Windelband hat sein Platonbuch an diesen Graecaabenden fundiert (Friedrich Meinecke: Strassburg Freiburg Berlin 1901–1919. Erinnerungen. Stuttgart: Koehler 1949, S. 35–38). Vgl. Eduard Schwartz: Am Sarge Wilhelm Windelbands. In: Ders.: Vergangene Gegenwärtigkeiten. Berlin: de Gruyter 1938 (Gesammelte Schriften Bd. 1), S. 383–385. Zuerst in: Straßburger Post, Nr. 818 vom 28.10.1915, Mittagsausgabe 2. Blatt. Vgl. die Erinnerungen Paul Hensels: Im Anfang der neunziger Jahre trat eine Vereinigung ins Leben […]. Nach dem Muster und Vorbild der berühmten Berliner Graeca traten einige Mitglieder der philosophischen Fakultät zusammen, um zweimal im Monat an einem Abend gemeinsam Griechisch, vorzugsweise Plato zu lesen. (Vgl. zur Berliner Graeca Eduard Zeller: Erinnerungen eines Neunzigjährigen. Stuttgart: Uhland 1908, S. 195.) Hensel erwähnt als Mitglieder: Georg Kaibel, Richard Heinze (Heintze), Karl Johannes Neumann, Adolf Michaelis (Elisabeth Hensel (Hg.): Paul Hensel. Sein Leben in seinen Briefen. Frankfurt a. M.; Societäts-Vlg. 1937 (identisch mit der Titelauflage Wolfenbüttel 1947), S. 415).5↑Kaibel ] Georg Kaibel (1849–1901), seit 1897 Prof. für klassische Philologie an der Universität Göttingen, zuvor Straßburg (NDB).6↑K. J. N. ] Karl Johannes Neumann (1857–1917), seit 1890 Prof. für Alte Geschichte in Straßburg (DBE).7↑fest nachschreiben und heimtragen kann ] Anspielung auf Goethe: Faust I, Vers 1966f.: Denn was man schwarz auf weiß besitzt kann man getrost nach Hause tragen.8↑Rheumatismus-Kur ] vgl. Windelband an Theodor Nöldeke vom 24.4.1901 sowie an Rickert vom 16.5.19019↑Euer Fest ] zur Feier des 150-jährigen Jubiläums der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.10↑die Wahl ] zum korrespondierenden Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901)▲