Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Straßburg, 2.1.1897, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Straßburg, 2.1.1897, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Strassburg i E. 2.1.97
Mein lieber Carlo,
Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind für mich das Gegenteil von Festtagen gewesen. Die alberne Geschichte, die an unserer Universität spielt[1] und ein grelles Licht auf allgemeine Bildungszustände wie auf politische Verhältnisse wirft, widerlich von Anfang bis zu Ende, hat mich stark mitbeschäftigt und, zumal ich noch zwei Tage durch eine auf den Magen entlastete Erkältung ins Bett geworfen wurde, mir alle Zeit und zugleich alle Stimmung genommen. Deshalb harrt Elly’s einliegender Brief[2] seit vier Tagen der zugesagten Begleitung und sie ist schon ganz böse, daß ich sie durch meine Versäumniß bei Dir in das Licht der | schrecklichen Undankbarkeit und Unhöflichkeit gesetzt habe. ich bitte Dich also, alle Schuld auf mich allein zu wälzen; sie hat sich über Deine reizende Ueberraschung so herzlich gefreut, daß ich auf mich selbst sehr ärgerlich bin, meiner Stimmungslosigkeit von Abend zu Abend so thöricht nachgegeben und nicht geschrieben zu haben. Und diese Schuld ist umso größer, als ich dabei auch versäumt habe, Dir meiner Frau und meiner andern Kinder herzliche Neujahrswünsche rechtzeitig zu übermitteln – von meinen eignen garnicht zu reden! Genug, ich bitte um Generalpardon; aber es war und ist wirklich zu toll hier, und ich strecke fast die Waffen im Kampf mit der übermenschlichen Dummheit, die wir extra[a] und intra muros academicos[3][b] zu bekämpfen haben. Viel | hab ich erlebt und mehr für möglich gehalten; aber das, was sich jetzt hier abspielt, übersteigt Alles. Wenn ich es Dir einmal erzähle, wirst Du auch sagen, daß der Hexensabbat kein leerer Wahn ist, – sobald der moderne Mensch in den Blödsinn politischer Leidenschaft geraten ist. Um wieviel würde das moralische und das intellectuelle Niveau der Menschen steigen, wenn man nur für ein paar Monate die Zeitungen verbieten könnte!! Doch, satis superque[4][c]!
Unsern Kaibel[5] habt Ihr ja nun wol. Möge er es nie bereuen! Ich wünsche es ihm und Euch von Herzen. Du selbst wirst bei dem Tausch gut fahren, und das freut mich eigentlich allein daran. Mein persönlicher Verlust ist nicht gering; wie die Fakultät sich zurechtfindet, bleibt abzuwarten. Ob es mit Rohde[6] etwas werden kann, ist zweifelhaft. Die Heidelberger haben sich eben sehr | über einen ebenso glatt wie einfach geflochtenen Korb geärgert, den sie sich bei unserm Knapp[7] geholt haben; sie werden Alles daransetzen, ihn uns, womöglich gefüllt, zurückzuschicken. Wir müssen also sehr vorsichtig sein, und es sind doch noch mancherlei andre Dinge, die in betracht kommen. Wundre Dich also über nichts.
Daß Du mit Deinen Nerven wenigstens nicht unzufrieden bist, freut mich: mein Gebein ist noch immer nicht ganz in Ordnung, der feuchte, neblige Winter ist mir garnicht recht; aber ich gehe doch täglich mein gutes Stündchen spazieren. Die Meinen sind wohl; sie lassen Dich alle viel, vielmals und herzlich zum neuen Jahre grüßen! Bleib’ uns allen der liebe, alte Freund!
Dein getreuer
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑alberne Geschichte, die an unserer Universität spielt ] über den sogenannten Straßburger Universitätsstreit berichteten ausführlich die Hochschul-Nachrichten (Paul von Salvisberg) von Dezember 1896–März 1897. Demnach kam es Ende 1896 während einer Vorlesung des Chemikers Rudolph Fittig (1835–1910, Chemiker; NDB) zum Streit zwischen einem altelsässischen und einem altdeutschen Studenten, den der altdeutsche Student beim Rektorat anzeigte, da er wusste, dass der Elsässer Satisfaktion verweigern würde. Das Rektorat reagierte mit Exmatrikulation des Elsässer Kommilitonen, woraufhin der altdeutsche Student in allen Lehrveranstaltungen von den Elsässern bedroht wurde. Außerdem wurden Vorlesungen boykottiert, woraufhin den Beteiligten ebenfalls der Verweis von der Universität angedroht wurde. Im Frühjahr 1897 wurde Windelband (die Hochschul-Nachrichten teilen im Februar irrtümlich den Namen Otto Lenels als neuem Rektor mit, dieser war jedoch Windelbands Vorgänger) zum Rektor gewählt: Diese Wahl darf als ein Nachspiel zu dem jüngsten Universitätskonflikt und zugleich als eine unverkennbare Demonstration der Universität gegenüber denjenigen Stimmen der Oeffentlichkeit betrachtet werden, welche im Verhalten der Universität eine allzu grosse Nachgiebigkeit erblicken wollen. Lenel [lies: Windelband] hat in jener Angelegenheit eine ziemlich schroffe Stellung gegen die Excendenten eingenommen, und wer bis jetzt noch nicht klar war, wird nunmehr wissen, dass die Universität weder die Flügel noch den Fittig [Anspielung auf den betroffenen Prof. Rudolph Fittig] hängen lässt. Schließlich fand unter den Vorbereitungen zum Jubiläum [der Universität Straßburg] […] auch der unerquickliche Universitätsstreit seinen endgültigen Abschluss […]. Die anlässlich der Affaire François-Martin relegierten altelsässischen Studenten stud. jur. Ehrhart und stud. med. Luttwig wurden wieder immatrikuliert und unter die Studierenden der Universität Strassburg aufgenommen (März 1897). Die Sitzungsprotokolle der Fakultätsakten für das Dekanatsjahr 1896/97 befinden sich nicht mehr in der entprechenden Akte, vgl. ADBR Strasbourg, 62 AL 17 (Dekanat Georg Dehio 1896/97), Autopsie vom 15.5.2017. Ob diese Akten kassiert wurden, läßt sich nicht feststellen.5↑Kaibel ] Georg Kaibel (1849–1901), 1886–1897 Prof. für klassische Philologie an der Universität Straßburg, 1897 nach Göttingen berufen (NDB).6↑Rohde ] Erwin Rohde (1845–1998), Philologe, 1872 ao. Prof. in Kiel, 1876 o. Prof. in Jena, 1878 in Tübingen, 1886 für ein Semester in Leipzig, seit 1886 in Heidelberg und damit erst späterer Kollege Windelbands (NDB).7↑Knapp ] Georg Friedrich Knapp (1842–1926), Nationalökonom, Statistiker, Agrarhistoriker, 1869 ao. Prof. in Leipzig, seit 1874 o. Prof. in Straßburg (NDB).▲