Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Straßburg, 7.8.1896 u. 10.8.1896, 5 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Straßburg, 7.8.1896 u. 10.8.1896, 5 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Strassburg iE, 7./10.8.96
Liebster Freund,
Ehe der Semesterschluß wieder alle guten Absichten verschlingt, will ich endlich die mich längst drückende Schuld des Briefes und des Dankes an Dich abtragen. Der Winter nach jenen schönen Augusttagen, in denen ich mich vor zwei Jahren des Wiedersehens[1] mit Dir freute, fuhr mit grauser Geschäftslast über mich hin, bis er mit der Friedrichsruher Angelegenheit[2] sein erfreuliches Ende fand. Dann aber fand der Neid der Götter im Sommer das Mittel, mir gründlichen Katzenjammer zu bereiten – Die Venen-Entzündung[3], an der ich zwölf Semesterwochen im Bette lag und an deren Folgen ich noch immer etwas zu laboriren habe. Vorm Jahr, in den Herbstferien, hab ich in Freudenstadt, – in schönen ebnen Tannenwäldern auf frischer Schwarzwaldhöhe – wieder gehen gelernt, aber ich muß es immer noch mit Maß betreiben, und wenn nicht mit all dem Stille liegen-müssen eine | unvermeidliche Nötigung zum Ausruhen des Gehirns verbunden gewesen wäre, so hätt’ ich wohl noch mehr von Frische eingebüßt, als es so schon geschehen sein mag. Dazu kommt, daß ich mich vielfach neu einleben muß, und das ist in unserm Alter schwer, schwerer als ich gedacht. Gewohnt im Stehen zu arbeiten und dazwischen peripatetisch zu philosophiren, bin ich jetzt, wo Stehen verboten und Gehen beschränkt ist, auf den Schreibstuhl gebannt, und es ist nicht zu glauben, wie schwer man sich in solche Veränderung der physischen Arbeitsart gewöhnt. Dabei muß ich, um nicht dick zu werden, noch allerlei an Diät und sonstiger Lebensweise ändern – und dieser ganze dumme Zwang, fortwährend mit dem „Thier“ zu rechnen, in dem man wohnt, hat etwas gräulich Unbehagliches und Deprimirendes, – wenigstens für mich, der ich bisher – dem Himmel sei’s geklagt – in dieser Hinsicht als Johann der muntre Seifensieder[4] drauflosgelebt habe. Es geht eben doch nicht spurlos an Einem vorüber, wenn man so wochenlang mit dem Bewußtsein stille liegt, daß, | wenn es so einem kleinen Blutgerinsel gefällt, an unzweckmässige Stellen zu bummeln, man jeden Augenblick abfahren kann. Und freut man sich nachher um so mehr, daß es noch Tag geblieben ist, so wird der doch immerhin etwas herbstlicher, wenn es immer heißt: vorsichtig sein!
In solcher Stimmung brachte mir nun der letzte Winter große Sorge um meine Frau, die ernsthaftest an schwerer Influenza lange Wochen litt, und mitten drin den Schreck von Wallach’s Unfall[5], des alten Freundes, der mir von den Tertianertagen an treu verbunden ist. Du hast mich damals so liebenswürdig in Kenntniß erhalten, daß ich mich immer schäme, wenn ich bedenke, daß in der trüben Sorgenstimmung ich Dir nicht einmal gedankt habe. – Und doch waren mir Deine Briefe Trost und Freude. Nachher in den Ferien hab’ ich mich allmählich wieder innerlich rangiert; fange nun auch wieder an, in der neuen Weise mich wohl zu fühlen, und was das Barometer dafür bekanntlich ist – zu arbeiten, sodaß ich wieder Licht und freie Bahn vor mir sehe. Ja, solche Zeiten wollen eben durchgemacht sein. |
Nun aber, liebster Freund, höre ich mit großer Betrübniß, daß Dir Aehnliches widerfahren ist, – daß Du Dir im Frühjahr in Italien so etwas Malariahaftes geholt und es noch nicht so ganz abgestreift hast. Da werden hoffentlich die Ferien den Rest des Uebels mit sich nehmen! Du schienst Dich eben in dem neuen Heim – ein freier Mann auf freiem Grunde – so glücklich eingerichtet zu haben: ich wünsche von Herzen, daß Du Dich Deiner behaglichen Eigeneinrichtung recht gut erfreuen darfst! Wenn es sich irgend so macht – vielleicht zum Spätherbst –, faß ich Dich bei Deinem liebenswürdigen „Komm und sieh“[6], und wenn ich nach Göttingen komme, hoffe ich mich bei Dir selbst von Deinem Wohlergehen zu überzeugen. Oder soll ich vorher die Freude haben? Wenn’s anginge! Du gehst doch gewiß in den Süden – solltest Du nicht irgendwie uns treffen können? Meine Frau würde sich sehr freuen, Dich wieder zu sehen, und die Töchter nicht minder, Dich kennen zu lernen: denn viel weiß ich die Dora nicht mehr von Dir. Wir | gehen in den nächsten Tagen in die Schweiz, nach Kurhaus Nunalphorn auf Flüehli-Ranft[7], einem Bergrücken zwischen Sarner See und Melonthal, Station Sachseln der Brünigbahn. Wenn Du also in die Nähe kommst – es ist ein einfaches und behagliches Haus, wie ich höre –, so mache einen Umweg dahin oder laß mich’s wissen, dann treffe ich Dich gern irgendwo. Wallach will mich auch dort aufsuchen. Ihr Junggesellen seid ja leichter gesattelt als unser einer. Gegen Mitte September kommen wir hierher zurück, – und wenn Du dann Deinen Rückweg über Str[assburg] nehmen wolltest und mir hier selbst einige Tage schenken könntest, das wäre vielleicht das Allerbeste. Ueberleg’s – Eins läßt sich gewiß machen! ich bin Deines Winks gewärtig[8].
Und nun für heut mit den herzlichsten Grüßen Dein getreuer
W Windelband[a]
Kommentar zum Textbefund
a↑W Windelband ] auf S. 6v (S. 6r leer) nicht zugehörige Notizen von anderer Hand (Karl Dilthey) mit Bleistift, um 90° gedreht, u. a. zu Motiven auf antiken Keramiken und zum Frankfurter RömerbrunnenKommentar der Herausgeber
2↑Friedrichsruher Angelegenheit ] Windelband hatte als Vertreter der Universität Straßburg an der Feier zu Bismarcks 80. Geburtstag am 1.4.1895 teilgenommen, vgl. Windelband an Wilhelm Dilthey vom 25.3.1895 sowie Windelband: Jahresbericht. Erstattet von dem Prorector. In: Das Stiftungsfest der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg am 1. Mai 1895. Strassburg: J. H. E. Heitz (Heitz & Mündel) 1895, S. 17.5↑Wallach’s Unfall ] Otto Wallach (1847–1931), Freund Windelbands seit der gemeinsamen Zeit am Potsdamer Gymnasium. Unfall nicht ermittelt.7↑Kurhaus Nunalphorn auf Flüehli-Ranft ] vgl. z. B. Die Schweiz nebst den angrenzenden Teilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. 30. Aufl. Leipzig 1903, S. 156.▲