Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Friedrich Theodor Althoff, Freiburg i. Br., 7.9.1883, 7 S., hs. (dt. Schrift), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nl Althoff, F. T. Nr. 1020
- Creator
- Recipient
- ParticipantsAugust Dorner ; Benno Erdmann ; Dorner ; Ernst Laas ; Friedrich Theodor Althoff ; Hermann Helmholtz ; Hermann Siebeck ; Immanuel Kant ; J. Jacobsohn ; Jacob Freudenthal ; Jakob Freudenthal ; Johannes Rehmke ; Karl Dilthey ; Kuno Fischer ; Martin Knutzen ; Otto Liebmann ; Rudolf Hirzel ; Rudolf Schöll ; Victor Ehrenberg
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationGeheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Windelband an Friedrich Theodor Althoff, Freiburg i. Br., 7.9.1883, 7 S., hs. (dt. Schrift), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nl Althoff, F. T. Nr. 1020
Freiburg iB. Dreisamstraße 7. 7 Sept[ember] 1883.
Hochverehrter Herr Geheimerath![a]
Ihr werthes, liebenswürdiges Schreiben ist mir von Straßburg hierher nachgesandt worden, wohin wir seit Anfang August unsern gesammten Haushalt verlegt haben, um dem Straßburger Sommer zu entgehen und unsern Kindern, so gut es bei unsern beschränkten Mitteln geht, wenigstens einigermaßen frische Luft, Berg und Wald, zu gewähren. Leider habe ich selbst trotz des schönen Wetters die reizende Dreisamstadt und ihre Umgebung nicht so benutzen können, wie ich gewünscht hätte, da ich gleichzeitig hier ein Buch[1] drucken lasse und der rasche Fortschritt des Drucks mich sehr mit Arbeit belastet. Deshalb bitte ich Sie auch, verehrtester Herr Geheimrath, zu verzeihen, wenn über diese Arbeiten einige Tage hingegangen sind, ehe ich zur Beantwortung Ihrer Fragen die erforderliche Muße und Ueberlegung gefunden habe.
Zunächst aber spreche ich Ihnen meinen innigen Dank für das andauernde Wohlwollen aus, welches Sie für mich beweisen und welches mir um so werthvoller ist, als ich durch dasselbe allein hoffen kann, meine Stellung in Straßburg – wenn es doch einmal beschlossen ist, daß ich darin bleiben soll – zu einer erträglichen zu machen. Als ich bei Ihrer neulichen Anwesenheit[2] in Straßburg nicht die Ehre hatte, Sie zu sehen, | habe ich das persönlich lebhaftest bedauert, daran aber die Hoffnung geknüpft, der Grund davon möchte darin liegen, daß die Breslauer Angelegenheit[3] noch nicht erledigt und möglicherweise noch zu meinen Gunsten zu wenden sei. Als deshalb bald darauf mir von Seiten der Collegen Anerbietungen gemacht wurden, ob nicht die Fakultät Schritte an geeigneter Stelle thun solle, daß ich in analoger Weise, wie College Schöll[4], für das Ausbleiben der Berufung entschädigt würde, so habe ich ausdrücklich gebeten, man wolle damit bis zur Entscheidung der Breslauer Angelegenheit warten. Inzwischen ist von Seiten der Regierung zur Verbesserung meiner Lage Nichts geschehen, was freilich damit zusammenhängen mag, daß ich eben seit Anfang August fort bin. Um so mehr würde ich Ihnen, verehrtester Herr Geheimerath, dankbar sein, wenn Sie Ihrer gütigen Absicht gemäß, bei neuer Gelegenheit für mich eintreten wollten. Bis Mitte October werde ich zwar hier bleiben, wo ich eine kleine Wohnung gemiethet habe, in der ich mit ganzer Familie hause; aber auf Ihren Wunsch bin ich sehr gern bereit, wenn Sie hierüber wie über andre Angelegenheiten mit mir zu sprechen wünschen, mich mit Ihnen sei es in Straßburg sei es irgendwo im Badischen zu treffen. Meine Adresse habe ich oben für den Fall einer Benachrichtigung angegeben.
Das Drückende meiner Situation in Straßburg besteht darin, daß man bisher Alles gethan hat, um meine Stellung durchaus als die „des zweiten Philosophen“ erscheinen zu lassen, – was ich nach der Art meiner Berufung nicht erwarten | durfte. Dauernd wird mir „aus formellen und administrativen Gründen“ die Mitdirection des Seminars vorenthalten, obwol in andern Seminarien derartige Doppelleitungen ohne Anstand existiren. Dieser Umstand wird um so fühlbarer werden, wenn erst in der neuen Universität die räumliche Trennung zwischen dem Directorialzimmer und dem Arbeitszimmer eintritt; ich werde dann wie jeder Extraordinarius die Erlaubniß, das Arbeitszimmer für meine Uebungen zu benutzen, und nicht mehr haben; vor Allem kann ich bei den Besprechungen über die zukünftige Einrichtung des Seminars nicht mitreden. – Was das Examen anlangt, so ist, während Liebmann’s Zeit noch nicht abgelaufen war, ohne jede Rücksicht auf mich Herr Laas einfach hineingesetzt und darin erhalten worden. Das Alles, an sich gleichgiltig, ist vermöge seines Eindrucks auf die Studenten, zumal bei der banausischen Art der Mehrzahl der Straßburger Studenten, für mich sehr unangenehm: ich erscheine durchaus in untergeordneter Stellung. Hätte ich von diesen Verhältnissen eine Ahnung gehabt, so würde es mir nie eingefallen sein, die einflußreiche, bedeutende Stellung, welche ich an der schönen Freiburger Universität einnahm, aufzugeben. ich kann Liebmann, der vorher keine Gelegenheit hatte, die Straßburger Professur, die er mir anbot, mit einem selbständigen, vollen Ordinariat aus eigner Erfahrung zu vergleichen, keinen Vorwurf daraus machen, daß ich von diesen Verhältnissen vorher nicht die rechte Vorstellung gewann; aber ich würde meine jetzige Stellung sehr gern gegen irgend ein selbständiges Ordinariat vertauschen. Dazu kommt, daß ich mich in Straßburg in sehr knapper pekuniärer Lage sehe: mein dortiges Gehalt reicht in den | dortigen Verhältnissen lange nicht so weit, wie meine Freiburger Einnahmen, deren absolute Höhe meinen jetzigen mindestens gleichkam[b]. (Die großen Fakultätseinnahmen in Freiburg deckten […][c] den Besoldungsunterschied.) Und in wie anderer Lage wäre ich nach jeder[d] Richtung in Freiburg, wenn ich den Straßburger Ruf abgelehnt[e] und ihn ausgebeutet hätte!!
Ihnen verehrtester Herr Geheimerath, gegenüber trage ich keine Bedenken[f], mit der Bitte um Ihre volle Diskretion, über diese Verhältnisse[g] ganz offen, viel offener zu sprechen, als ich es in Straßburg selbst irgend Jemandem gegenüber thue. Es steht[h] mir nicht an, durch persönliches Ambiren[5], durch Klagen oder Ueberredungen dasjenige durchzusetzen, was nach meiner Ueberzeugung eine objective Nothwendigkeit wäre. Aber ich hege[i] das Bedürfniß, Sie vollständig klar darüber sehen zu lassen, welche Hoffnung für mich mit dem definitiven Verzicht[j] auf die Breslauer Aussicht dahinfällt. –
Was nun die Kieler Vorschläge[6] anlangt, so sehe ich aus denselben, daß man die historische und speciell die antike Richtung dabei im Auge gehabt hat, und ich wüßte auch nicht, wen man[k] bei diesem Interesse sonst hätte besser wählen sollen. Nur wundre ich mich, daß man Siebeck als eine viel reichere, bedeutendere Persönlichkeit, die durchaus geeignet wäre, ihre Richtung neben dem Erdmann’schen Positivismus mit Erfolg aufrecht zu erhalten, erst in zweiter Linie gestellt hat. Die Arbeiten Freudenthals[7] sind, soweit ich sie kenne, tüchtige Specialitäten; da ich ihn persönlich nicht kenne, so darf ich kein Urtheil darüber wagen, in welchem Grade er geeignet wäre, in umfassender Weise historische und gar theoretische Gegenstände auf dem Katheder zu behandeln. Dilthey hat sich einmal | brieflich mir gegenüber[8] sehr günstig über ihn ausgesprochen, was ich von ihm gesehen, hat mir den Eindruck von großem Scharfsinn und exactem Denken gemacht; aber, wie gesagt, ob er zur vollen und selbständigen Vertretung der ganzen Philosophie geeignet ist, darüber habe ich kein Urtheil; um so weniger, als ich hier, bei den hiesigen Bibliotheksverhältnissen keine Gelegenheit habe, seine Abhandlungen noch einmal einer genaueren Betrachtung zu unterwerfen. Der gleiche Grund verbietet mir, wie ich sogleich hinzufügen will, über Herrn[l] Dorner[9] Ihnen zu schreiben; ich habe von dessen Schriften nur noch eine so dunkle Vorstellung, daß ich, da ich hier auf der Bibliothek mich vergebens danach umgesehen, es nicht verantworten könnte, Ihrem Wunsche nur durch vage Erinnerungen zu entsprechen. Dagegen bin ich in der Lage, über Hirzel[10] sicher urtheilen und sagen zu können, daß ich ihn – den Schriften nach – für entschieden reifer und bedeutender als Freudenthal halte. Hirzel kenne ich persönlich aus Leipzig her; er ist ein stiller, feiner Mann, ein echter Gelehrter, der als Specialist sehr bedeutend ist, dessen Vorlesungen aber in Leipzig neben der großen Menge anregender Behandlungen der Gesammtfächer und der modernen Probleme in geringem Maße zur Geltung kamen. Ob sich das jetzt geändert hat, weiß ich nicht: zweifellos aber darf ich sagen, daß in den Fragen über die besonderen Abhängigkeiten der römischen von der griechischen Philosophie er das Wichtigste geleistet hat und als Autorität gelten darf: und das kann man auch in einer Specialfrage nicht erreichen, wenn man sie nicht im großen Zusammenhange zu sehen und aus bedeutenden Gesichtspuncten zu behandeln befähigt ist, – wenigstens nicht in der Philosophie und ihrer Geschichte. |
Ueber Benno Erdmann zu schreiben, wird mir schwer: ich thue es nur auf Ihren Wunsch, indem ich bitte, ganz vertraulich mich äußern zu dürfen. Denn ich kann über ihn nur Alles dasjenige unterschreiben, was Kuno Fischer, wenn auch in sehr heftiger und wenig vornehmer Form, über ihn in den letzten Jahren hat drucken lassen[11]. Die Vielgeschäftigkeit der historischen Arbeiten und Ausgaben, welche E[rdmann] seit einigen Jahren entwickelt; die unterscheidungslose Mikrologie, womit er den „zeitgemäßen“ Kant behandelt, sodaß er die ganzen Küchenabfälle der kritischen Philosophie drucken läßt; die seiner Leistungen nicht im geringsten entsprechende Schroffheit, mit welcher er ex cathedra[m] über die tüchtigtsen, ihm weit überlegnen Männer aburtheilt; die Vornehmheit, mit der er seine Ansichten als selbstverständige, alle entgegenstehenden als eo ipso[n] verächtliche behandelt, – alles das macht den Eindruck eines unreifen Bestrebens, von sich in der Welt reden zu machen und die eigne Superiorität als eine bereits feststehende dem ferner stehenden Leser erscheinen zu lassen. ich bemerke, daß ich ihn nie gesehen, daß ich nie mit ihm auch nur im entferntesten Verhältniß, nicht einmal in demjenigen einer literarischen Polemik gestanden habe, daß wir uns noch nie bei Berufungsvorschlägen einander im Wege[o] gestanden haben: ich spreche nur vom Eindruck seiner Schriften. Was dann die „Axiome der Geometrie“[12] anlangt, so ist man wol bald allgemein darüber einig, daß dieselben ein durchaus unfertiges, prätensiöses[p] Machwerk darstellen, welches in seiner total widerspruchsvollen Weise gänzlich ohne Resultat ist, und welches noch dazu dem Helmholtz’schen Gedanken, den es auszu|führen unternimmt, sich in keiner Weise gewachsen zeigt. Die vernichtende Kritik[13], welcher jüngst Jacobson dieses Buch unterzogen hat, giebt meine Meinung über dasselbe, ganz unabhängig, da ich auch mit Jacobson nie den geringsten Verkehr gehabt, vollständig wieder. Wie allgemein diese Ansicht ist, mag daraus zu entnehmen sein, daß selbst bei denjenigen, welche den philosophischen Ansichten E[rdmann]’s nahe stehen, das peinliche Erstaunen sich darüber ausgesprochen hat, als es gelungen war, ihn auf die Liste der Besetzung der Berliner Professur zu bringen. Das Beste von ihm ist seine erste Arbeit, diejenige über Martin Knutzen[14]; sie ist eben noch absichtslos; seitdem habe ich von Buch zu Buch mich mehr über ihn verstimmt gefühlt[15].
Was endlich Rehmke[16] anlangt, so ist es schwer, über ihn eine Prognose zu stellen: denn, mag er auch nicht mehr jung sein, so ist er doch erst in den Anfängen. Sein Buch, „Die Welt als Vorstellung und Begriff“[17] ist nicht ohne Originalität, aber es ist nicht fertig; es ist abgeschlossen, ehe die Gedanken zu Ende gedacht worden sind. Doch enthält es viel Gutes, der Verf[asser], den ich auch nicht persönlich kenne, ist eine tüchtige Denkkraft. Seinen Standpunct teile ich nicht; aber das thut nichts zur Sache: jedenfalls weiß der Mann, was philosophisches Denken ist. Seine Rede über Kant und die Physiologie[18] auf der vorjährigen Naturforscherversammlung war gut gemeint, aber nichts Besonderes.
Doch ich mache, verehrtester Herr Geheimerath, von Ihrer freundlichen Erlaubniß schon allzu ausführlichen Gebrauch. Es wäre mir eine sehr große Freude, wenn Ihre Anwesenheit in unsrer Gegend[19] zu Ende[q] dieses Monats mir die höchst erwünschte Gelegenheit gäbe, Sie wiederzusehen. Inzwischen empfehle ich mich Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin, wie immer, in ausgezeichneter Hochachtung als Ihr ganz ergebner
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
a↑Hochverehrter Herr Geheimerath! ] links oben von Althoffs Hd. mit Bleistift: Windelband. | Durch Postk[arte] gedankt.k↑nicht, wen man ] nicht, … man ein Wort Verlust durch Aktenheftung; das in Frage stehende Wort könnte auch wie lautenKommentar der Herausgeber
1↑Buch ] Windelband: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. Freiburg i. B./Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1884.7↑Freudenthals ] gemeint ist Jacob Freudenthal (1839–1907), seit 1864 am Jüdisch-Theologischen Seminar Breslau, 1875 in Breslau habilitiert, 1879 dort ao., 1888 o. Prof. (BEdPh).9↑Dorner ] gemeint ist August Dorner (1846–1920), 1874 Prof. am Predigerseminar Wittenberg, 1889 ao. Prof., 1890 o. Prof. der Theologie in Königsberg (BEdPh).11↑hat drucken lassen ] vgl. z. B. die Abfertigung Benno Erdmanns durch Kuno Fischer in: Immanuel Kant und seine Lehre Teil 1. Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie. München: Bassermann 1882 (Geschichte der neuern Philosophie Bd. 3), S. 50–51.13↑Kritik ] vgl. J. Jacobsohn: Die Axiome der Geometrie und ihr „philosophischer Untersucher“ Herr Benno Erdmann. In: Altpreussische Monatshefte 20 (1883), S. 301–341.14↑über Martin Knutzen ] vgl. Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants. Leipzig: Voss 1876.15↑verstimmt gefühlt ] das hinderte nicht eine spätere Zusammenarbeit. Windelband gab heraus: Bericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für die Jahre 1890–1893. I [mehr nicht erschienen]. Descartes und Schule. Bericht von Benno Erdmann. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 7 (1894), S. 521–534.16↑Rehmke ] gemeint ist Johannes Rehmke (1848–1930), 1875–83 an der Kantonsschule St. Gallen, 1884 in Berlin habilitiert, 1885 ao. Prof., 1887 o. Prof. Greifswald (BEdPh).18↑Rede über Kant und die Physiologie ] vgl. Rehmke: Ueber Physiologie und Kantianismus. Vortrag vom 21.9.1882. In: Tageblatt der 55. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Eisenach 1855, S. 98–116.▲