Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Georg Jellinek, Straßburg, 22.6.1883, 4 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32
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- Physical LocationBundesarchiv Koblenz
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Windelband an Georg Jellinek, Straßburg, 22.6.1883, 4 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32
Strassburg i/E. Möllerstr. 4.[1] 22 Juni 83
Lieber Freund!
Meinen herzlichsten Glückwunsch! ich habe über Deine Nachricht eine große Freude gehabt. Wie schön, daß Du durchgedrungen und an das Ziel der Professur[2] gelangt bist! Daß es weit eher hätte geschehen sollen, davon bin ich fest überzeugt: aber in Anbetracht der verwickelten Verhältnisse, die sich, wie Du mir einst erzähltest, sogar schon Deiner Habilitation in den Weg stellten, bin ich nun um so mehr froh, daß Du es erreicht hast! Versenke Dich nur als der offizielle Vertreter des Staatsrechts nicht ganz völlig in das „Positive“ und bleib’ auch uns Philosophen etwas treu! Wie viel wir von denen zu lernen haben, die sich in die Abgründe des Besonderen gestürzt haben, erfahre ich gerade jetzt wieder, wo ich Ethik mit Rechtsphilosophie[3] | lese und denen am meisten dankbar bin, die unser Bedürfniß von Seiten der positiven Jurisprudenz entgegenkommen; da greif’ ich oft auch zu Deinem Recht, Unrecht und Strafe[4] und denk mir dabei, daß Du uns noch einmal ein Umfassenderes schenken wirst. Wie gern bespräch’ ich mancherlei mit Dir! Mit dem „social-ethischen“ Princip ist es halt bisher ein eigen Ding! Die bloße, nackte Existenz der Gesellschaft ist kein absoluter Zweck; auch die Gesellschaft will also einem höheren teleologischen Zusammenhange eingeordnet sein! Aber woher ihn nehmen und nicht stehlen? – wenn man ihn weder bei einer Metaphysik noch bei einer Theologie suchen kann? Und der „allgemeine Nutzen“, d. h. derjenige aller Individuen resp. der Majorität ist es nicht: denn der steht unter der Gesellschaft. Soll man den absoluten Zweck also unter die Noumena versetzen, in den großen Kasten der „Dinge an sich“ und des absoluten X.? Schade nur, daß er Einem dann garnichts hilft und daß man nicht das Geringste mit ihm anfangen kann! |
Wann werden wir uns überhaupt einmal wiedersehen? Eine leise Hoffnung setze ich auf Deine Brautreise[5]! Und das ist eben Doppelhoffnung: auch die kennen zu lernen, die Dich ganz gefangen genommen hat! Vorerst sprich ihr unsre besten Grüße aus. Unsre: denn auch Dir sendet meine Frau herzlichen Gruß und Glückwunsch.
Uns geht es wie in großer Stadt im Sommer der zum Glück bisher nicht zu heiß ist. Wir wohnen vor der Instadt, dicht bei einem kleinen Wäldchen, haben große, hohe, luftige Räume: trotzdem vermisse ich mein schönes Freiburg, wo wir für die Ferien uns wieder einquartieren werden. So ganz eingelebt kann ich mich in Straßburg noch nicht nennen: es sind gar wunderliche Verhältnisse, die hier walten und von denen man selbst bei so genauer Nachbarschaft wie von Freiburg aus keine Vorstellung hat. Ob diese Neuschöpfung[6] je den Charakter der deutschen Universitäten, in dem wir als in einem Selbstverständlichen | aufgewachsen sind, wird annehmen können, bleibe dahingestellt. In der deutschen Universität sind Akademie und Fachschule gewissermaßen in einander gewachsen: es mag im Ganzen ein sonderbares Gebilde sein, in dem man die Züge beider Ursprünge kaum scheiden kann; aber in diesem Verschwimmen besteht der historische Charakter der Universität. Hier sind die beiden Elemente bisher nur aneinandergeleimte! Ob sie noch verwachsen werden? Man sollte daran glauben, wenn man bedenkt, daß noch erst vor 50 Jahren Berlin[7] gegründet ist. Aber wie hat sich auch seitdem der Charakter der deutschen Studentenschaft geändert! Will man aber deren „Bedürfnisse“ auf die alte Institution pfropfen, so riskirt man diese degeneriren zu sehen.
Deinem Brief, liebster Freund, sehe ich mit großer Freude entgegen. Nochmals den besten Glückwunsch! Dein
Windelband
Kommentar der Herausgeber
2↑Professur ] Jellinek wurde 1883 zum ao. Prof. des Staatsrechts an der Universität Wien ernannt; der Einfluß klerikaler und antisemitischer Kreise vereitelte seine Ernennung zum Ordinarius (NDB); vgl. Windelband an Jellinek vom 26.7.1878.4↑Recht, Unrecht und Strafe ] vgl. Jellinek: Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe. Wien: Hölder 1878.▲