Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Friedrich Theodor Althoff, Straßburg, 7.12.1882, 8 S., hs. (dt. Schrift), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nl Althoff, F. T. Nr. 1020
- Creator
- Recipient
- ParticipantsAlois Riehl ; Arnold Geulincx ; Edmund Pfleiderer ; Eduard von Hartmann ; Ernst Laas ; Friedrich Theodor Althoff ; Gottfried Wilhelm Leibniz ; Gustav Glogau ; Günther Thiele ; Heinrich Spitta ; Hermann Lotze ; Hermann Siebeck ; Immanuel Kant ; Johann Friedrich Herbart ; Johann Gottlieb Fichte ; Johannes Heinrich Witte ; Johannes Volkelt ; Julius Baumann ; Julius Bergmann ; Otto Liebmann ; Paul Natorp ; Platon ; René Descartes ; Rudolf Eucken ; Wilhelm Schuppe
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationGeheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin
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Windelband an Friedrich Theodor Althoff, Straßburg, 7.12.1882, 8 S., hs. (dt. Schrift), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nl Althoff, F. T. Nr. 1020
Strassburg[a] i/E. Möllerstr. 4.[1] 7 Dec[ember] 1882.
Verehrtester Herr Geheimerath!
Für Ihr ehrenvoll vertrauliches Schreiben sage ich Ihnen meinen besten Dank, und indem ich mir vorbehalte, auf meine eigne Angelegenheit nach einiger Zeit zurückzukommen, erfülle ich gern Ihren Wunsch hinsichtlich der Breslauer Angelegenheit.
Daß P[aulsen][2] seine Annahme rückgängig gemacht hat, bedaure ich nicht allzu sehr: die Thatsache zeigt, daß eine persönliche Bedürftigkeit nicht vorliegt; sachlich kann ich aber nicht umhin, meine Ansicht dahin auszusprechen: der Posivismus[b] hat, getragen von der naturwissenschaftlichen Tendenz unserer Tage, unterstützt von den entsprechenden Elementen der in alter Weise constituirten philos[ophischen] Fakultäten, sich auf unsern deutschen Kathedern bereits in einer Ausdehnung heimisch gemacht, die zwar noch nicht eine Majorität, am wenigsten eine solche der Kapacität ist, den ich aber nicht vergrößert wünsch|te und in die ich eine so wichtige Professur wie die Breslauer nur ungern eingeschlossen gesehen hätte. Ich muß es mir gefallen lassen, wenn Sie diese Ansicht, die auch meinen folgenden Angaben zu Grunde liegt, einen Partei-Standpunct nennen: aber das glaube ich sagen zu dürfen, daß sie gar keine persönlichen Gründe hat, sondern auf der rein sachlichen Ueberzeugung beruht: es sei die Erfüllung der akademischen Aufgabe der Philosophie, den Brod- und Fachstudien gegenüber den Idealismus des wissenschaftlichen Einheitsstrebens zu vertreten, am wenigsten von einer Richtung zu erwarten, die geneigt ist, die Philosophie mit einigen specifischen empirischen Untersuchungen zu identificiren.
Für Breslau würde ich Ihnen Liebmann[3] nennen, wenn nicht gegen diesen dasselbe Argument, wie gegen mich, in Betracht käme. Neben ihm scheint mir zuerst Siebeck[4] hervorzutreten, für den ich Sie um so eher zu interessiren wünschte, als er bereits, so viel ich weiß, nach mir und P[aulsen] vorgeschlagen ist. Ich bemerke, daß ich S[iebeck] persönlich von gelegentlichen Begegnungen kenne, und zwar kenne als einen sehr tüchtigen, durchaus gediege|nen Forscher, vor Allem aber als einen sicheren, ruhigen Character, von dem eine Verletzung anderer confessioneller Standpuncte niemals zu befürchten wäre. S[iebeck] steht der völkerpsychologischen Richtung nahe, ohne ihr eigentlich anzugehören: sein „Wesen der aesthetischen Anschauung“ (Berl[in] 1873) zeigt eine selbständige Vertretung des Herbart’schen Standpunctes. Sein Hauptwerk ist die „Geschichte der Psychologie“ (I,1 Gotha 1880, I,2 im Druck) – ein sehr gediegenes, für seinen, bisher nur ganz ungenügend behandelten Gegenstand maßgebendes Werk. S[iebeck]’s Persönlichkeit ist nicht in hervorragendem Maße anregend, aber von ruhiger Solidität, und ich glaube, daß er seinen Platz ganz vortrefflich ausfüllen würde.
Nach ihm würde ich mir erlauben, Sie auf Bergmann[5] in Marburg aufmerksam zu machen. Dessen Philosophiren ist nun zwar garnicht modern; er steht bei Platon, Leibniz und Fichte: aber er ist ein durchaus würdiger und ernster Denker. Die „Beurtheilung des Kriticismus“ (Berl[in] 1875), „Reine Logik“ (79), „Sein und Erkennen“ (80) und die eben erschienenen „Grundprobleme der Logik“ sind außerordentlich tüchtige, tief dringende, | scharfsinnige Schriften. Man sagt ihm einen großen Lehrerfolg nach; und erzählt sich von seiner hoch conservativen[c] und kirchlich positiven Gesinnung. Gesehen habe ich ihn nie; auch nie mit ihm correspondirt: über dies persönliche Element werden Sie bessere Wege der Information haben.
Nach diesen beiden müßte man schon um ein gut Stück tiefer greifen. Das gälte meine Ansicht nach sowol von Baumann[6] (Göttingen), dessen „Philosophie als Orientirung über die Welt“ und „Handbuch der Moral“ immerhin tüchtige und achtungswerthe Leistungen sind, als auch von Eucken[7] (Jena), der in seinen „Grundbegriffen der Gegenwart“ und in der „Geschichte der philos[ophischen] Terminologie im Umriß“ umfassende historische Studien, wenn auch in etwas unbestimmter, schwammiger Darstellung, jedenfalls aber mit echt philosophischem Geiste bewiesen hat (von mehreren kleineren Schriftchen abzusehen), als auch weiterhin von E[dmund] Pfleiderer[8] (Tübingen), der in kleineren Arbeiten über Leibniz, über Lotze über Geulinx hübsche Details geliefert hat, aber auf große Bedeutung keinen Anspruch erheben darf, als auch endlich von Schuppe[9] (Greifswald), | zwar einen entschiedenen Antipositivisten, dessen dickleibige Bücher jedoch („Erkenntnißtheoretische Logik“ 1878 und „System der Rechtsphilosophie“ 1881) einen etwas verschrobenen Eindruck machen und die Befürchtung nahe legen, sie seien schnell redigirte Vorlesungsabdrucke, in welchem Falle sie für die Vorlesungen auch kein günstiges Vorurtheil indiciren würden.
Eigenthümlich steht die Sache mit Riehl, meinem Nachfolger in Freiburg. Er war dort neben Siebeck, mit Inversion der alphabetischen Reihenfolge, vorgeschlagen und wurde als Katholik von der Regierung bevorzugt. Er bildet die eigenthümliche Erscheinung auf theoretischem Gebiete, das er bisher allein literarisch behandelt, aprioristischer Kantianer, auf dem practischen aber, wie ich erst hinterher aus einer Recension von ihm über Laas[10] und aus Privatgespächen erfahren habe, extremer Positivist und Utilist zu sein.
Soll auf die jüngeren Kräfte gegriffen werden, so nenne ich neben Glogau[11] und Thiele[12], die Sie beide genauer kennen, zunächst Volkelt[13] (Jena), der seine an Hartmann sich anlehnenden Anfänge („Das Unbewußte | und der Pessimismus“ und „Die Traumphantasie“) überwunden zu haben scheint und in seinem Buch über „Kant’s Erkenntnißtheorie“ sehr Tüchtiges geleistet hat, sodann, aber nur als psychologischen Specialisten, H. Spitta[14] (Tübingen), dessen verdienstliche Arbeit „über die Schlaf- und Traumzustände“ eben die zweite Auflage erlebt hat und dessen Schrift „Die Willensbestimmungen“ ebenfalls sehr zu loben ist, – endlich Natorp[15] (Marburg), dessen Arbeit über „die Erkenntnißtheorie Descartes’“ meinen vollen und ungetheilten Beifall hat.
Bei allen diesen habe ich zwar nicht aus persönlicher Kenntniß, wol aber aus dem Eindruck ihrer Schriften die Ueberzeugung, daß sie den entgegengesetzten Richtungen, mit denen sie in Breslau zu rechnen haben würden, nicht durch tactloses und eiferndes Auftreten Anlaß zu Verletzung geben würden; doch würde ich mich immer darauf verlassen, daß Sie Sich im besonderen Fall darüber eingehender zu orientiren vermögen würden.
Zuletzt möchte ich diese Gelegenheit nicht versäumen, | Ihrem Wohlwollen einen Mann zu empfehlen, der der Bonner Fakultät ähnliche, wenn auch nicht gleiche Verlegenheit bereitet, wie uns V[aihinger][16], nämlich H. Witte[17], einen zwar keineswegs bedeutenden, zu alleiniger Vertretung der Philos[ophie] durchaus noch nicht geeigneten, aber durchaus strebsamen, anständigen und kenntnißreichen Mann, der nur deshalb noch nicht zu einem Extraordinariat gekommen ist, weil er in dem, auf persönlichen Gründen beruhenden Streben danach, sich durch eine Vielschreiberei zu helfen meinte, die ihm den Hals gebrochen hat. Er ist in persönlich bedauernswerther Lage; und ich wünschte ihm wol eine kleine Unterkunft.
Verzeihen Sie, verehrtester Herr Geheimerath, wenn ich zu ausführlich gewesen bin: ich beschließe diese, selbstverständlich nur für Ihr Auge bestimmte Revue, welche natürlich keinen andern Anspruch macht, als Ihrem Wunsche gemäß meine subjective Meinung vor Ihnen mit aller Offenheit auszubreiten, – ich beschließe sie mit dem | Ausdruck des Dankes dafür, daß Ihr ehrenvolles Vertrauen mir dazu Gelegenheit geboten hat, und mit der Bitte, unsre besten Empfehlungen von Haus zu Haus freundlichst entgegenzunehmen, als Ihr hochachtungsvoll ergebner
Windelband
Kommentar zum Textbefund
a↑Strassburg ] links oben von Althoffs Hd.: Windelband: Philosophen, besonders in Bezug auf Breslau. Zu der Breslauer Sache.Kommentar der Herausgeber
4↑Siebeck ] Hermann Siebeck (1842–1920), 1872 in Halle habilitiert, 1875 o. Prof. Basel, 1883 Gießen (BEdPh).5↑Bergmann ] Julius Bergmann (1839–1904), 1872 in Berlin habilitiert, im selben Jahr o. Prof. Königsberg, 1874 Marburg (BEdPh).6↑Baumann ] Julius Baumann (1837–1916), 1863 in Berlin promoviert, Schüler Lotzes, o. Prof. Göttingen (BEdPh).9↑Schuppe ] Wilhelm Schuppe (1836–1913), 1860 in Berlin promoviert, seit 1861 Gymnasiallehrer, auf Empfehlung Lotzes 1873 als o. Prof. nach Greifswald berufen (BEdPh).10↑Recension von ihm über Laas ] Alois Riehl rezensierte: Ernst Laas, Idealismus und Positivismus, Teil II. In: Deutsche Literaturzeitung 3 (1882), Sp. 924–925.11↑Glogau ] Gustav Glogau (1844–1895), zunächst im Schuldienst, 1878 in Zürich habilitiert (Polytechnikum), 1882 dort Prof., 1883 ao. Prof. Halle, 1884 o. Prof. Kiel (BEdPh).12↑Thiele ] Günther Thiele (1841–1910), 1869 in Halle promoviert, danach im Schuldienst, 1875 in Glückstadt habilitiert, 1881 ao. Prof., seit 1882 in Königsberg, 1885 o.Prof. (BEdPh).13↑Volkelt ] Johannes Volkelt (1848–1930), 1876 in Leipzig habilitiert, 1879 ao. Prof. Jena, 1883 o. Prof. Basel, 1889 Würzburg, 1894 Leipzig (BEdPh).14↑Spitta ] Heinrich Spitta (Jg. 1849), 1878 in Tübingen habilitiert, 1883 Titel ao. Prof. Tübingen, 1887 etatsmäßig, 1902 Honorarprofessor (Wer ist’s (1912), S. 1540).17↑H. Witte ] gemeint ist vermutlich Johannes Heinrich Witte (* 1846), nach den Titelblättern seiner Publikationen Docent der Philosophie an der Universität Bonn (1876), 1885 dort Professor der Philosophie, 1889 Professor der Philosophie und Pädagogik – mit jeweils unklarem Status. Näheres nicht ermittelt. Witte verfaßte u. a.: Beiträge zum Verständniss Kant’s (1874), Salomon Maimon: die merkwürdigen Schicksale und die wissenschaftliche Bedeutung eines jüdischen Denkers aus der Kantischen Schule (1876), Vorstudien zur Erkenntnis des unerfahrbaren Seins. Philosophische Abhandlungen spekulativ- und historisch-kritischen Inhalts (1876), Zur Erkenntnistheorie und Ethik. Drei philosophische Abhandlungen (1877), Über Anschaulichkeit in den Sinnen und Anschaulichkeit im Denken (1879), Die Philosophie unserer Dichterheroen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Idealismus (1880), Über Freiheit des Willens, das sittliche Leben und seine Gesetze. Ein Beitrag zur Reform der Erkenntnistheorie, Psychologie und Moralphilosophie (1882), Kantischer Kritizismus gegenüber unkritischem Dilettantismus (1885), Das Wesen der Seele und die Natur der geistigen Vorgänge im Lichte der Philosophie seit Kant und ihrer grundlegenden Theorien historisch-kritisch dargestellt (1888), Sinnen und Denken. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge aus den Gebieten der Litteratur, Philosophie und Pädagogik sowie ihrer Geschichte (1889).▲