Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 11.6.1877, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
- Creator
- Recipient
- ParticipantsAlbrecht Ritschl ; Baruch de Spinoza ; Dora Windelband ; Eduard von Hartmann ; Ernst Kuhn ; Ferdinand Frankenhäuser ; Friedrich Ritschl ; Friedrich Schöll ; Hermann Osthoff ; Hugo Blümner ; Johann Wolfgang von Goethe ; Karl Bernhard Stark ; Karl Dilthey ; Kuno Fischer ; Richard Avenarius ; Theodor Borsdorf ; Wilhelm Studemund ; Wilhelmine Wichgraf
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Freiburg i. Br., 11.6.1877, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- und UB Göttingen, Dilth. 141
Freiburg i B. 11 VI 77
Liebster Freund
Ex ungue leonem – ex aure asinum![1] Daran erkenne ich die Gesellschaft, also auch diesen letzten Aerger bereitet man Dir. Und dabei trägst Du doch wieder eigentlich meine Sünden. Die Verweigerung der Zuzugsgelder für Av[enarius][2], die Desavouirung des mir gegebenen Versprechens, meine Gesch[ichte] d[er] Päd[agogik] besonders zu honoriren[3], diese filzige Knapserei[4] jetzt bei Dir – es sind drei Capitel desselben Buches. Nun weiß ich in der That nicht, wie die Rechtsverhältnisse liegen, und wo man, wo gar der Deutsche sich das Recht holt, erst recht nicht. Das Gewohnheitsrecht spricht jedenfalls für Dich: Denn noch mir ist das Gehalt bis zum 31 März vollständig ausgezahlt worden, obwohl ich meinen Rücktritt auf Schluß des Semesters angezeigt und bestätigt erhalten. Aber als es sich um 12 Tage handelte, waren sie nobel, wo es sich um 1 1/2 Monat handelt, zeigen sie sich in der wahren Gesinnung. Es ist ein Ekel. Was mich betrifft, so habe ich an die Tit. Behörde eine Kabinetsordre erlassen des Inhalts, daß, nachdem ich von derselben belehrt worden sei, daß eine in amtlicher Unterredung gegebene Zusage nicht als amtlich anzusehen sei, ich mich gern bescheide, jenen Unterricht gratis ertheilt zu haben. In dieser Lage würde ich auf der vollen Gehalts|auszahlung bis zum Äußersten bestehen. Die Sitten Europa’s lassen über Dein Recht keinen Zweifel bestehen: wo vierteljährliche Zahlung ist, da gilt selbstverständlich jedes angebrochene Dienstjahr für voll. Und für Dich wäre es ja ein sehr bedeutender Ausfall.
Aber liebster Carlo, noch sechs Wochen, und Du wirst wieder frei athmen! Du glaubst nicht, wie viel Leute sich freuen, daß es endlich geglückt ist, Dich aus der Züricher Gewohnheit herauszureißen! – Schöll und[a] Studemund[5], die ich beide in Baaden sah, gehören vor Allem dazu – auch Stark[6] versicherte mich freundlichst seiner großen Freude darüber!! In der That, das fand ich „stark“! Stärker aber finde ich – salva Rudolphi amicitia[7] – die Berufung des Knaben Sch[öll][8] nach Heidelberg. Der Leipziger Ritschelianismus[9] ist doch wahrhaftig wie eine Wurstmaschine, die wo nur eine Lücke entsteht mit echtem horror vacui sogleich wieder nachstopft und schließlich zu sehr frisch eingeschlachtetem Fleische greift. Und hier liegt noch die größere Rücksichtslosigkeit vor, daß sie Osthoff[10], der an Kuhn’s[11] Stelle dorthin kam und in Leipzig schon zwei Jahre Docent | war, noch immer als Extraordinarius da lassen und ihm nun dies Jüngelchen, das kaum ein Semester sich versucht hat, gleich als Ordin[arius] vorsetzen.
Uns geht es abgesehen von Dienstbotennöthen, die erst in einigen Wochen sich beendigen werden und meiner Frau manchmal den Kopf heiß machen, und abgesehen von der sonstigen, auch hier tropischen und nur durch die wunderbar kühlen Nächte erträgliche Hitze, recht gut. Beide Töchterlein sind sehr wohl und machen uns viel Freude. Deine kleine Freundin Dora hat die Impfung fast erfreulich überstanden, und fängt jetzt an, recht vergnüglich zu plappern, wobei ich tiefe sprachphilosophische Studien anstelle. Als erstes Resultat vertraue ich Dir an, daß der Beginn des Sprachbedürfnisses nicht aus Nachahmung entspringt, sondern sich ganz spontan entwickelt. Wieviel Antheil daran der Darwinismus und die Philosophie des Unbewußten[12] haben, bleibt noch dahingestellt.
Meine Schwiegermama[13] ist vor einigen Tagen abgereist, wird aber in vermutlich acht bis vierzehn Tagen durch eine Tante[14] von mir abgelöst werden, da die Wirthschaft mit den beiden kleinen Rangen für meine Frau, solange daran physische Kräfte noch nach anderer Seite hin reichlich in Anspruch genommen sind, doch etwas angreifender Natur ist. ich selbst gewinne, da die Collegs | mir[b] nicht viel Mühe machen, allmälig Zeit für meine heranwachsende Psychologie[15]. Doch bleibe es unentschieden, ob ich noch im Semester fertig werde, da ich bei solcher Hitze, wie sie jetzt hereingebrochen ist, absolut arbeitsunfähig bin und nur die Nachtstunden zur Verfügung habe.
Grüße Frankenhäusers[16] recht herzlich und sage Ihnen, sobald es die Hitzeverhältnisse etwas weniger unbequem für sie erscheinen ließen, würde ich an die Erfüllung des Versprechens einer Spritze[17] hierher mahnen, wobei hoffentlich auch Du Dich mahnen läßt. Ueber ein Treffen in Waldshut etc. müssen wir so wie so noch genaueres verabreden. Vor 14 Tagen kann ich kaum fort.
Bis dahin, lieber Carlo, leb mir wohl und laß Dich nicht ärgern. „Wenn sie mich ärgern, was geht’s mich an?“ können wir Goethe parodiren[18]. Meine Frau sendet Dir herzlichen Gruß!
Dein
W Windelband
Hast Du meinen Spinoza[19] bekommen? Es freut mich daß er gerade in dieser Zeitschrift steht als ein Moment, das ich überhaupt darin vertreten werde, – als Gegengewicht gegen allzu große Einseitigkeit. Grüße die wägende Tafelrunde. Hat Av[enarius][20] sich entschlossen, zu prüfen?
Kommentar zum Textbefund
b↑mir ] am Kopf der S. nicht zugehörige Notizen (Literaturangaben zum Theokritos-Kommentar von Theodor Borsdorf 1874) von anderer Hand (Karl Dilthey) mit BleistiftKommentar der Herausgeber
1↑Ex … avinum! ] geflügeltes Wort (Büchmann) nach Alkäus oder Phidias: Den Löwen nach der Klaue (malen), d. h. aus einem Detail aufs Ganze schließen; Windelband ergänzt: aus dem Geruch den Esel.2↑Verweigerung … Avenarius ] vgl. Prof. Richard Avenarius, Besoldungserhöhung; Staatsarchiv des Kantons Zürich, MM 2.224 RRB 1879/1093, S. 401–302 – Regierungsratsbeschlüsse seit 1803 online: http://suche.staatsarchiv.djiktzh.ch/detail.aspx?ID=3441348 (eigene Transkription): Herr Avenarius welcher seit Frühjahr 1877 als ordentlicher Professor für induktive Philosophie an unserer Hochschule wirkt und eine jährliche Besoldung von 4000 Fr. bezieht gegen eine Verpflichtung von 10–12 wöchentlichen Unterrichtsstunden, gelangt mit dem Gesuch um Besoldungserhöhung an den Er|ziehungsrath unter Hinweis darauf, daß ihm sr. Zt. keine Umzugsentschädigung verabreicht, dagegen eine Erhöhung seines Jahresgehalts in nahe Aussicht gestellt worden sei.4↑filzige Knapserei ] wahrscheinlich im Zusammenhang der Überprüfung des Lehrdeputats von Karl Dilthey vom 21.7.1876 gemeint, die am 24.3.1877 dem Regierunsrat des Kantons Zürich zur Beschlußfassung vorgelegt wurde. Die Überprüfung hatte eine Diskrepanz von 4–6 wöchentlichen Stunden in der Ernennungsurkunde zu 10–12 Stunden nach gesetzlicher Verpflichtung ergeben, vgl. Staatsarchiv des Kantons Zürich, MM 2.224 RRB 1877/0624 – Regierungsratsbeschlüsse seit 1803 online: http://suche.staatsarchiv.djiktzh.ch/detail.aspx?ID=3375318. Karl Dilthey trat im Sommer 1877 von seiner Professur für Archäologie und klassische Philologie zurück und ging nach Göttingen. Sein Nachfolger wurde Hugo Blümner (1844–1919), zuvor ao. Prof. in Königsberg (Amtsantritt in Zürich am 17.10.1877), vgl. den Regierungsratsbeschluß Nr. 267 vom 18.8.1877, Staatsarchiv des Kantons Zürich, MM 2.224 RRB 1877/1477: http://suche.staatsarchiv.djiktzh.ch/detail.aspx?ID=34054415↑Studemund ] wahrscheinlich Wilhelm Studemund (1843–1889), Philologe, 1864 Promotion in Halle, 1864–1868 Forschungsaufenthalte in Italien, 1868 ao. Prof. in Würzburg, 1869 o. Prof., 1870 in Greifswald, 1872 in Straßburg, 1885 in Breslau (ADB).6↑Stark ] vermutlich Karl Bernhard Stark (1824–1879), Klassischer Philologe u. Archäologe, seit 1855 o. Prof. für Archäologie in Heidelberg, 1873 u. 1874/75 Prorektor (NDB).7↑salva Rudolphi amicitia ] lat. Formel salva amiticia: unbeschadet der Freundschaft (hier: „Rudolfs“); Bezug unklar.8↑Berufung des Knaben Schöll ] der Klassische Philologe Friedrich Schöll (1850–1919), 1876 an der Universität Leipzig habilitiert, wurde 1877 als o. Prof. nach Heidelberg berufen (Wer ist’s (1912) S. 1430).9↑Leipziger Ritschelianismus ] als Schulbezeichnung sonst mit dem Namen des Göttinger evangelischen Theologen Albrecht Ritschl (1822–1899) verbunden, hier aber bezogen auf dessen Verwandten und Windelbands ehemaligen Leipziger Kollegen Friedrich Ritschl (1806–1876), 1865–75 Klassischer Philologe an der Universität Leipzig (NDB). Vgl. Ritschls Separatvotum für Kuno Fischer vom 3.12.1874 in der vorliegenden Edition.10↑Osthoff ] Hermann Osthoff (1847–1909), Sprachwissenschaftler, 1869 Promotion in Bonn, 1871 Gymnasiallehrer in Kassel, 1874 erneutes Studium der vergleichenden Sprachwissenschaften in Leipzig, 1875 Habilitation in Leipzig, 1877 Prof. für vergleichende Sprachwissenschaft und Sanskrit in Heidelberg, 1884/85 und 1894/95 Dekan, 1899/1900 Prorektor (NDB). Laut NDB wurde Osthoff 1877 nach Heidelberg berufen und im selben Jahr zum o. Prof. ernannt. Osthoff ist jedoch für das WS 1877/78 im Heidelberger Vorlesungsverzeichnis als ao. Prof. aufgeführt und erst im SS 1878 als o. Prof.11↑Kuhn’s ] Lesung unsicher, kann auch Rahn heißen. Ein solcher Name ist indes an der Universität Heidelberg im fraglichen Zeitraum nicht nachgewiesen. Wahrscheinlich ist gemeint: Ernst Kuhn (1846–1920), Indologe u. Indogermanist, 1869 promoviert, 1871 PD in Halle, 1872 in Leipzig, 1875 o. Prof. in Heidelberg, 1877–1917 o. Prof. für arische Philologie und vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft in München (NDB).12↑Philosophie des Unbewußten ] Anspielung auf das gleichnamige Buch von Eduard von Hartmann, erschienen 1869.15↑heranwachsende Psychologie ] das Projekt gelangte nicht zur Ausführung, vgl. Windelband an Karl Dilthey vom 3.8.1878.18↑Goethe parodiren ] nach Wilhelm Meisters Lehrjahre 4,9: Wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an!19↑meinen Spinoza ] vgl. Windelband: Zum Gedächtniss Spinoza’s (An seinem zweihundertjährigen Todestage gesprochen an der Universität Zürich). In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 1 (1877), S. 419–440.▲