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- TitleWindelband: Gutachten über Paul Häberlin als Kandidat für die psychologisch-pädagogische Professur (Beilage zur Sitzungseinladung des Dekans Alfred Weber an die Mitglieder der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg vom 30.7.1913), Heidelberg, 29.7.1913, 6 S., Ts. (Hektographie), vereinzelte hs. Korrekturen von Windelbands Hd., UA Heidelberg, H-IV-102/140, Bl. 7–12
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- Physical LocationUniversitätsarchiv Heidelberg
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Windelband: Gutachten über Paul Häberlin als Kandidat für die psychologisch-pädagogische Professur (Beilage zur Sitzungseinladung des Dekans Alfred Weber an die Mitglieder der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg vom 30.7.1913), Heidelberg, 29.7.1913, 6 S., Ts. (Hektographie), vereinzelte hs. Korrekturen von Windelbands Hd., UA Heidelberg, H-IV-102/140, Bl. 7–12
Dem[a] von der Fakultät gewünschten gutachterlichen Bericht über den Basler Privatdozenten Häberlin[1] schicke ich eine kurze Zusammenfassung der Gesichtspunkte voraus, welche bei der neu in Aussicht genommenen Lehrstelle, in die er eintreten soll, entscheidend in Betracht kommen.
Die wissenschaftlich längst vollzogene Abzweigung der Psychologie von der Philosophie ist bekanntlich im Lehrbetrieb der philosophischen Fakultäten bisher (von verschwindend geringen Fällen abgesehen) nicht durch die Schaffung eigener Lehrstellen für Psychologie, sondern leider durch die Besetzung philosophischer Katheder mit Psychologen z. T. einseitig experimenteller Richtung zum Ausdruck gekommen. Den Missständen, die sich daraus ergeben und in jüngster Zeit auch die Oeffentlichkeit beschäftigt haben[2], wird man nur entgehen, wenn unter Wahrung des Besitzstandes der Philosophie mit der Errichtung psychologischer Professuren Ernst gemacht wird.[3] Dabei steht jedoch die Psychologie, wenn man sie in ihrer allseitigen Bedeutung auffasst, immer noch in so engen Beziehungen zur Philosophie, dass eine gründliche philosophische Vorbildung für ihren wissenschaftlichen Betrieb in ganz anderer Weise und in höherem Masse erforderlich ist, als bei irgend einer andern der im Laufe der Zeit ebenfalls von der Philosophie abgezweigten Wissenschaften. Es wird deshalb immer wünschenswert bleiben, dass der Psychologe zur philosophischen Fakultät gehört und für seine Person eine vollgültige philosophische Bildung besitzt: von ihr aus allein wird er all die einzelnen psychologischen Disziplinen, von der experimentellen Psychophysik bis zu den an die Grenze der | Soziologie und Geschichte reichenden Teilen der Sozialpsychologie, in fruchtbarer Weise überschauend vereinigen können. Diese z. T. praktischen Zweige der Psychologie haben jedoch für ihren akademischen Lehrer auch die Bedeutung, dass sie ihm einen erweiterten Kreis der Wirksamkeit gewähren, und es wird jeweils von Momenten sachlicher und persönlicher Art abhängen, welche dieser Anwendungen besonders hervorgehoben werden sollen.
Unter den gegenwärtigen Interessen unserer Fakultät steht dabei das pädagogische im Vordergrund. Wie man auch über den Wert pädagogischer Lehre an der Universität denken möge, – es muss anerkannt werden, dass diese Fragen zur Zeit in lebhaftem Fluss sind, dass die akademische Jugend sich mit ihnen beschäftigt und darüber unterrichtet zu sein wünscht, dass es also im Interesse der Universität ist, selber für die Erfüllung dieses Bedürfnisses Sorge zu tragen.
Aus diesen Erwägungen wünscht die Fakultät die Schaffung einer zunächst ausserordentlichen Professur für theoretische und angewandte Psychologie, insbesondere Pädagogik, und sie begrüsst es dankbar, dass das Grossherzogliche Ministerium sich dem Eingehen auf diesen Wunsch geneigt zeigt. Da jedoch die Errichtung des Extraordinariats formell die Mitwirkung des Grossen Senats und die Einstellung in das Staatsbudget voraussetzt, so wird zunächst der Gedanke erwogen, eine geeignete Persönlichkeit unter Aussicht auf entsprechende Remuneration[b][4], Titel und Anwartschaft auf das spätere etatsmässige Extraordinariat zur Habilitierung zu veranlassen. Es würde von einem solchen Mann erwartet werden, dass er in die eigentlich philosophische Lehrtätigkeit nicht | eingriffe, dagegen die Psychologie im philosophischen Sinne beherrsche und keine der einseitigen Richtungen vertrete. Die Errichtung eines Instituts für physiologische Psychologie wird dabei nicht in Aussicht genommen, da diesem Bedürfnis jetzt durch einen Privatdozenten der medizinischen Fakultät[5] vollauf genügt wird. Wie weit für die Pädagogik seminaristische Einrichtungen, etwa unter Anlehnung an das philosophische Seminar, sich erforderlich erweisen, wird die Zeit lehren.
Für den nächsten Anfang durch eine Habilitation ist der Fakultät Herr Häberlin empfohlen und mir der Auftrag gegeben worden, mit ihm in unverbindlicher Weise persönlich Fühlung zu nehmen.
Dr. Paul Häberlin[6] ist 1878 in Kesswyl am Bodensee geboren und auf dem Gymnasium in Frauenfeld gebildet. Er hat in Basel, Göttingen und Berlin Theologie studiert und sich mehr und mehr den philosophischen Fächern zugewendet, sodass er 1903 in Basel mit einer Dissertation „Ueber den Einfluss der spekulativen Gotteslehre bei Schleiermacher“ promovierte, wobei Botanik und Zoologie seine Nebenfächer waren. Er war dann 1½ Jahre Lehrer an der Realschule in Basel und übernahm darauf die Direktion des Lehrerseminars seines Heimatkantons Thurgau in Kreuzlingen, an dem er den Unterricht in Psychologie und Pädagogik erteilte. Von hier aus habilitierte er sich 1908 an der Universität Basel mit einer Schrift über „Herbert Spencer’s Grundlagen der Philosophie“ und las seitdem mit wachsendem Erfolge über philosophische, psychologische und pädagogische Gegenstände. | Seit 1909 behandelte er zweimal Geschichte der Erziehung in Deutschland und der Schweiz (2st[ündig], 23 bzw.[c] 29 Hörer), die analytischen Methoden in der Psychologie (3st[ündig], 22 H[örer]), Allgemeine Psychologie (3st[ündig], 37 H[örer]), Leib und Seele (3st[ündig], 47 H[örer]), Einführung in die moderne Psychologie des Unbewussten (2st[ündig], 38 H[örer]), Einführung in die Erkenntnistheorie (1st[ündig], 80 H[örer]), Hauptprobleme der Philosophie (2st[ündig], 72 H[örer]); in Uebungen Mach’s Analyse der Empfindungen, Aufgabe der Philosophie, Erkenntnistheorie (10–12 Teilnehmer). Während dieser Zeit ist neben kleinen populären Gelegenheitsaufsätzen sein zweibändiges Buch „Wissenschaft und Philosophie[“] (1910 und 1912, 360 und 426 Seiten) erschienen.
Auch diese Hauptschrift gehört trotz des anscheinend philosophischen Themas wesentlich dem eigentlichen Arbeitsgebiet des Verfassers an: der Psychologie. Denn es ist nichts anderes und will nichts anderes sein, als eine Psychologie der Wissenschaft und der Philosophie, eine psychogenetische Analyse des wissenschaftlichen und des philosophischen Denkens. Auf deren psychologische Unterscheidung lief schon die Habilitationsschrift über Spencer hinaus, und in dieser Richtung bietet das grössere Werk eigenartige und z. T. scharfsinnige Untersuchungen. Freilich ist dabei der Wissenschaftsbegriff ziemlich einseitig auf die Naturforschung eingestellt, und die Ausführungen über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Psychologie zeigen eine[d] wohl noch nicht ganz abgeschlossene Ansicht, die bisher auf den sehr allgemeinen Begriff der Psychologie, wie ihn zuletzt etwa Lipps aufgestellt hat[7], hinauszulaufen scheint.[e] Immerhin ist das Ganze | ein selbständiger Versuch analytischer Forschung in klarer und leichtverständlicher Darstellung.
Zeigen diese Schriften[8] den Verfasser in dem zentralen, der Philosophie naheliegenden Teile der Psychologie historisch und systematisch trefflich orientiert und zu eigener Arbeit befähigt, so ist er auch in den weiteren Auszweigungen dieser Wissenschaft mit seltener Vielseitigkeit ausgebildet. In Göttingen war er Schüler G[eorg] E[lias] Müller’s und hat dessen Anerbieten, sein Assistent zu werden, nur deshalb abgelehnt, weil er nicht in dessen nicht philosophiefremde, sondern philosophiefeindliche Richtung hineingezogen werden wollte. Andererseits hat er von Kreuzlingen aus durch die Binswanger’sche Heilanstalt[9] Beziehungen zu den psychiatrischen Kreisen Zürichs und speziell der Freud’schen Anhängerschaft gefunden, deren Einseitigkeiten er jedoch mit kritischem Urteil gegenübersteht. Er hat sich mit solchen Fragen praktisch soweit vertraut gemacht, dass er durch die erfolgreiche Erziehung leicht abnormer junger Leute z. T. jetzt noch seinen Unterhalt bestreitet. Seine pädagogische Begabung aber hat er allen Nachrichten zufolge besonders in seiner 4½jährigen Seminartätigkeit bewährt, während er literarische Leistungen auf diesem Gebiete bisher nicht aufzuweisen hat. Das letztere mag z. T. damit zusammenhängen, dass er als Basler Dozent bisher systematische Pädagogik aus Rücksicht auf einen älteren Extraordinarius[10] nicht gelesen hat.
Persönlich hat mir Herr Häberlin den Eindruck eines verständigen und wohlunterrichteten, nachdenklichen und durchaus zuverlässigen Mannes gemacht, und diesen Eindruck haben mir die eingehenden Schilderungen von Prof. Karl Joël[11] vollauf bestätigt, der bei seiner Promotion und Habilitation entscheidend mitgewirkt und seinen ganzen Entwicklungsgang mit dem lebhaftesten Interesse verfolgt hat. Auch er ist, wie ich selbst, überzeugt, dass für die Kombination, welche unsere Fakultät für die neue Lehrstelle in Aussicht nimmt, zur Zeit keine geeignetere Persönlichkeit zu finden wäre, als Herr Häberlin.
Dieser selbst hat sich mir gegenüber in der unverbindlichen Besprechung[12] bereit erklärt, unter den Aussichten, die ich ihm nach den Mitteilungen des Herrn Dekan als die voraussichtlich zu gewährenden eröffnen durfte, sich hierher umzuhabilitieren. Der Verzicht auf die eigentlich philosophische Lehrtätigkeit, der dazu Bedingung wäre, wird ihm zwar subjektiv schwer werden; aber er will sich dazu entschliessen, und ich bin mit Prof. Joël der Ansicht, dass er objektiv damit den seiner wesentlichen wissenschaftlichen Richtung und Begabung durchaus entsprechenden Weg einschlagen würde.
Heidelberg[f], den 29. Juli 1913.
W Windelband[g]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Basler Privatdozenten Häberlin ] vgl. den Briefwechsel Windelband–Häberlin in der vorliegenden Edition. Zum ganzen Vorgang vgl. Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Heidelberg: University Publishing 2017, S. 327–336 u. S. 370–413 sowie 427–432.2↑Oeffentlichkeit beschäftigt haben ] gemeint ist die Erklärung gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie, die mit Erscheinen von Logos (4), 1. Heft (S. 115–116) am 19.4.1913 und den nachfolgenden Abdrucken in den großen philosophischen Zeitschriften einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden. Zunächst war diese Erklärung, von Heinrich Rickert initiiert und verfaßt, an alle deutschen Universitäten und die Unterrichtsministerien (Baden: 16.2.1913) versandt worden; vgl. Windelband an Rickert vom 8.1. u. 7.3.1913. Vgl. zu dieser Vorgeschichte und zur Abstimmung des Textes mit den Erstunterzeichnern Rudolf Eucken, Edmund Husserl, Paul Natorp, Alois Riehl und Windelband den editorischen Bericht zu Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 17, S. 482–485. Der Text der Erklärung ist im selben Bd. S. 177–179 abgedruckt. Zum Kontext vgl. Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Heidelberg: University Publishing 2017, S. 289–312 sowie Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 357–372.3↑wenn … wird. ] in der Erklärung gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie. In: Logos 4 (1914), S. 115–116 heißt es: Es muß im gemeinsamen Interesse der beiden Wissenschaften sorgfältig darauf Bedacht genommen werden, daß der Philosophie ihre Stellung im Leben der Hochschulen gewahrt bleibt. Daher sollte die experimentelle Psychologie in Zukunft nur durch die Errichtung eigener Lehrstühle gepflegt werden, und überall, wo die alten philosophischen Professuren durch Vertreter der experimentellen Psychologie besetzt sind, ist für die Schaffung von neuen philosophischen Lehrstühlen zu sorgen.5↑einen Privatdozenten der medizinischen Fakultät ] Hans W. Gruhle (venia legendi für Psychiatrie und medizinische Psychologie seit 3.3.1913), vgl. Jürgen Klüpfel/C. F. Graumann: https://www.psychologie.uni-heidelberg.de/willkomm/cfg/instber-2b.html#IIb (3.8.2016).6↑Dr. Paul Häberlin ] vgl. für das Folgende auch Paul Häberlin: Statt einer Autobiographie. Frauenfeld: Huber 1959.7↑Lipps aufgestellt hat ] z. B. in Theodor Lipps: Leitfaden der Psychologie. Leipzig: Engelmann 1903, S. 3.: Die Psychologie ist die Lehre von den Bewußtseinsinhalten oder Bewußtseinserlebnissen als solchen. Es ist dasselbe, wenn ich sage: Sie ist die Lehre von den Bewußtseinserscheinungen oder Bewußtseinsphänomenen. Doch ist dabei zu bedenken: „Erscheinungen“ setzen jedesmal etwas voraus, das in ihnen erscheint.8↑Schriften ] in Windelbands Besitz befanden sich von Häberlin: Die Grundfragen der Philosophie. Basel 1914; Psychoanalyse und Erziehung. Sonderdruck 1914.9↑Binswanger’sche Heilanstalt ] Häberlin war mit dem Psychiater Ludwig Binswanger (1881–1966) befreundet, Arzt (seit 1910 Direktor) am Kreuzlinger Sanatorium für Nervenkrankheiten. Durch Binswanger lernte Häberlin Sigmund Freud kennen (vgl. Häberlin/Binswanger Briefwechsel 1908–1960. Hg. v. J. Luczak. Basel: Schwabe 1997; Freud/Binswanger Briefwechsel 1908–1938. Hg. v. G. Fichtner. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1992).10↑älteren Extraordinarius ] Friedrich Heman (1839–1919), 1888–1916 ao. Prof. für Philosophie und Pädagogik an der Universität Basel, Leiter der philologisch-historischen Abt. des Pädagogischen Seminars (DBE; Die Universität Basel in ihrer Entwicklung in den Jahren 1885–1895. Im Auftrag des Erziehungsdepartements des Kantons Basel-Stadt … zusammengestellt v. Albert Teichmann. Basel: Reinhardt & Sohn 1895, S. 45). Vgl. die Basler Vorlesungsverzeichnisse: SS 1900–WS 1913/14 liest Heman (Dr. der Phil., Lic. der Theol. und a. o. Professor) u. a. Allgemeine Pädagogik und Didaktik, Geschichte der Pädagogik, Pädagogisches Seminar.▲