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- TitleVaihinger an Adolf Grimme, Halle, 21.10.1930, 3 S., Ts. mit eU, Briefkopf Prof. Dr. phil. Hans Vaihinger | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med h. c. | Dr. jur. h. c. | Halle a. d. S., den … 19… | Reichardtstr. 15, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nl Adolf Grimme, Nr. 2615
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Vaihinger an Adolf Grimme, Halle, 21.10.1930, 3 S., Ts. mit eU, Briefkopf Prof. Dr. phil. Hans Vaihinger | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med h. c. | Dr. jur. h. c. | Halle a. d. S., den … 19… | Reichardtstr. 15, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nl Adolf Grimme, Nr. 2615
21. Oktober 1930
Hochverehrter Herr Staatsminister Grimme![a]
Sie erinnern sich vielleicht, dass ich am 22. März d[iesen] J[ahres] gelegentlich meines Glückwunsches zu Ihrer Ernennung zum preussischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Aussicht gestellt[1] habe, Ihnen ein Exemplar der 5. Auflage meines Buches „Nietzsche als Philosoph“[2] zu überreichen. Dabei bemerkte ich, dass ich in der Neubearbeitung gelegentlich der Erörterung der Stellung Nietzsches zum Sozialismus auch mich auf Sie beziehen werde. Das ist geschehen. Auf S. 56 meiner beiliegenden Schrift habe ich in einer längeren Anmerkung das Verhältnis Nietzsches zum Sozialismus resp. Kollektivismus erörtert, soweit es in einer solchen Anmerkung geschehen kann und dabei habe ich Ihre Antrittsrede im Februar 1930 erwähnen können[3].
Dass ich diese neue Auflage meines Buches, die ich Ihnen für den April resp. Mai in Aussicht gestellt hatte, erst jetzt übersende, liegt an verschiedenen Umständen, vor allem an einem elfwöchentlichen Kuraufenthalt in Bad Suderode a[m] H[arz]. Erst jetzt kann ich das Buch verschicken, das vielleicht auch von anderen Gesichtspunkten aus Ihr Interesse erwecken mag. So darf ich vielleicht darauf hinweisen, dass ich in dem Buch nachgewiesen habe, dass Nietzsche durch seinen Zusammenbruch Ende 1888 verhindert worden ist, die Ansätze zu einer vierten Periode seiner Entwicklung zur Reife zu bringen: ganz offenbar stand er unmittelbar davor, seine negative Stellung zur Religion und speziell zum Christentum, wie er sie in abschreckender Weise | im „Antichrist“ dargestellt hat, zwar nicht zurückzunehmen, wohl aber zu ergänzen durch eine positive Würdigung des ethischen und aesthetischen Wertes der religiösen Vorstellungen, und zwar im Sinne der Fiktionslehre der „Philosophie des Als Ob“. Dies habe ich auf S. 94 und 95 herausgestellt, wie ich glaube, in überzeugender Weise.
Damit steht ja nun im Zusammenhang, dass die „Philosophie des Als Ob“ durchaus nicht, wie viele Theologen glauben, religionsfeindlich ist. Sie ist vielmehr religionsfreundlich, wie ich dies auch in einer grösseren Arbeit[4] entwickelt habe, von der ich demnächst Separatabdrücke zu versenden imstande sein werde.
Auch Vertreter des „religiösen Sozialismus“, wie z. B. der mir persönlich sehr gut bekannte Pastor Lic. Dr. Emil Fuchs in Eisenach stellen sich positiv zu den Auffassungen der Religion, welche im Anschluss an Kant schon Friedrich Albert Lange und dann weiterhin die „Philosophie des Als Ob“ entwickelt haben.
Leider hatte ich, als Sie in Halle die pädagogische Akademie[5] eröffneten und ich Ihre Eröffnungsrede anhören konnte, keine Gelegenheit, mich Ihnen vorzustellen, was mir, dem Erblindeten und jetzt Neunundsiebzigjährigen ja besonders schwierig ist. Vielleicht ergibt sich dazu einmal eine andere Gelegenheit.
Mit dem Ausdruck aufrichtiger Verehrung Ihr ergebenster
H. Vaihinger |
Nachtrag.[b]
Vielleicht darf ich noch auf Folgendes hinweisen[c]. Die jetzt erscheinenden billigen Ausgaben der Werke von Nietzsche kommen natürlich nun leicht in die Hände der Schüler höherer Lehranstalten und vielleicht sogar auch in die Hände älterer Schüler von Mittelschulen und sogar von Volksschulen.
So entsteht die Gefahr, dass dadurch in den Köpfen dieser jungen Leute Verwirrung angerichtet wird[d], dass sie die paradoxen Aussprüche von Nietzsche missverstehen und gar in schiefer Weise zur Anwendung bringen.
Das ist eine grosse Gefahr für alle Lehranstalten.
Es wird sich deshalb die Notwendigkeit herausstellen, dass die Lehrer aller dieser Lehranstalten „Arbeitsgemeinschaften“, wie sie durch die preussischen „Richtlinien“ für die höheren Schulen[6] vorgesehen sind, einrichten müssen, um Schaden zu verhüten oder schon entstandene Verwirrung zu bekämpfen. Für solche „Arbeitsgemeinschaften“ empfiehlt es sich nun aber durchaus nicht, etwa die Schriften von Nietzsche selbst zu lesen. Wohl aber dürfte es zweckmässig sein, mit den Schülern in solchen „Arbeitsgemeinschaften“ ein Buch über Nietzsche vorzunehmen, in welchem objektiv über denselben berichtet wird, ohne (einseitige) Kritik, die dem Lehrer und den älteren Schülern selbst überlassen bleiben muss.
Ich darf wohl annehmen und auch offen aussprechen, dass mein Buch „Nietzsche als Philosoph“ sich gerade sehr wohl dazu eignet, in Arbeitsgemeinschaften höherer Schulen und auch von pädagogischen Akademien zu Grunde gelegt zu werden. Von verschiedenen Lehrern solcher Anstalten ist mir wenigstens versichert worden, dass gerade mein Buch dazu sehr geeignet sei.
Ganz ergebenst
H. V.
Kommentar zum Textbefund
a↑Hochverehrter Herr Staatsminister Grimme! ] über der Anrede Vermerk von Grimmes Hd. mit Bleistift: Hrn MR Richert | wegen des „Nachtrags“ spräche ich gern einmal mit Ihnen Gr 22/10Kommentar der Herausgeber
2↑5. Auflage meines Buches „Nietzsche als Philosoph“ ] 5., erweiterte u. vermehrte Aufl. Langensalza: Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1930 (Bausteine zu einer Philosophie des Als-Ob N. F. Hg. v. H. Vaihinger. Heft 1 = F. Manns Pädagogisches Magazin Heft 1170).4↑grösseren Arbeit ] vgl. Vaihinger: Ist die Philosophie des Als-Ob religionsfeindlich? In: Gunnar Aspelin u. Elof Åkesson (Hg.): Studier tillägnade Efraim Liljequist den 24 september 1930. Andra bandet. Lund: Aktiebolaget Skånska Centraltryckeriet 1930, S. 193–222 (auch separat erschienen); sowie E. Fries: Ist Vaihingers Philosophie des Als-Ob religionsfeindlich? In: Hallische Nachrichten, Nr. 21 vom 26.1.1931, S. 3.5↑pädagogische Akademie ] gegründet 1930 zur akademischen Ausbildung von Volksschullehrern, vgl. Wolfgang Werth: Die Vermittlung von Theorie und Praxis an den preussischen pädagogischen Akademien 1926–1933. Dargestellt am Beispiel der Pädagogischen Akademie Halle/Saale (1930–1933). Frankfurt a. M.: dipa-Verlag 1985 (Dissertation Frankfurt a. M. 1984).6↑preussischen „Richtlinien“ für die höheren Schulen ] vgl. Hans Richert: Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens 1. Teil. Grundsätzliches und Methodisches. Berlin: Weidmann 1925.▲