Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Paul Ernst, Halle, 16.11.1926, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med. h. c. | Halle a. S., den … 192… | Reichardtstr. 15., Wasserzeichen MANILA | SCHREIBMASCHINEN, darunter Flügelrad, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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- Physical LocationDeutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
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Vaihinger an Paul Ernst, Halle, 16.11.1926, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | Geh. Reg.-Rat | Dr. rer. techn. h. c. Dr. med. h. c. | Halle a. S., den … 192… | Reichardtstr. 15., Wasserzeichen MANILA | SCHREIBMASCHINEN, darunter Flügelrad, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Ernst, Paul
16. November[a] 1926
Hochgeehrter Herr Dr. Paul Ernst!
Sie hatten die grosse Güte, mir im Laufe dieses Jahres zwei schöne literarische Gaben zuschicken zu lassen: durch die Deutsche Buchgemeinschaft in Berlin erhielt ich ein Exemplar des „Schmalen Weges zum Glück“[1] und aus Ebersberg erhielt ich vor kurzer Zeit von dem Kaiserbuch[2] den ersten Teil der Sachsenkaiser. Die letztgenannte gütige Gabe kam gerade so glücklich an, dass ich sie meiner Frau auf den Geburtstagstisch legen konnte, die von jeher ein ganz besonderes Interesse für die alten deutschen Kaiser hatte, und überaus erfreut ist, ein ihr selbst zusagendes Buch zu haben, dass sie mir vorlesen kann. Denn in dem abendlichen Vorlesen besteht der beste Teil unseren häuslichen Zusammenseins. Der Tag wird mir weggenommen durch meine wissenschaftliche Korrespondenz und durch meine Tätigkeit bei der Herausgabe der „Bausteine zu einer Philosophie des Als Ob“, aber der Abend gehört der gemeinsamen Lektüre. Freilich – das Vorlesen, resp. das sich Vorlesen-Lassen erfordert ausserordentlich viel Zeit und Kraft, und zum Glück für sie selbst haben die meisten Menschen keine Ahnung davon, wie überaus mühevoll dieser Modus der Bekanntschaft mit der Literatur ist. So sind wir denn auch in dem prächtigen Buche „Der schmale Weg des Glücks“ erst bis S. 125 gekommen, bis an die Anfangszeit des Berliner Studiums des Helden. Aber das Buch fesselt uns sehr, ja wir haben den geheimen Glauben, dass ein gutes Stück Autobiographie in dem Buch steckt, und so sind wir auf die geistige und moralische Weiterentwicklung des jungen Mannes sehr gespannt. Wir finden in dem Buche wieder alle Vorzüge Ihres klassisch einfachen Stiles, durch den Sie sich vor so vielen anderen bedeutenden Schriftstellern auszeichnen.
Soweit ich in meiner Zeitung die Nachrichten über die Nobelstiftung | verfolgen konnte, ist der literarische Nobelpreis dieses Jahres[3] noch nicht vergeben. Möchten endlich die Stockholmer Herren einsehen, dass Sie und gerade Sie jetzt der würdige Träger dieses Preises sind, in deutschen Landen. Wie ich soeben finde, haben Sie ja im Laufe dieses Jahres Ihren 60. Geburtstag gefeiert; das ist mir damals entgangen[4], denn durch meine Erblindung lebe ich ja wie in einer Isolierzelle und erfahre die wichtigsten Nachrichten entweder zu spät, oder gar nicht, und wahrscheinlich habe ich auch diesen Festtag nicht beachtet. Das täte mir sehr leid, aber jedenfalls sende ich Ihnen nachträglich meine herzlichsten Glückwünsche dazu, die sich aufs Neue wieder immer in dem Gedanken konzentrieren[b], der Nobelpreis möchte Ihnen bald zuteil werden!
Die Literarische Gesellschaft, in deren Mitte Sie während des Krieges einen Vortragsabend abhielten, ist unterdessen, wie so vieles in Deutschland, eines seligen Endes gestorben: das Publikum hat kein Geld mehr für solche Dinge, und so entbehrt die Stadt Halle (mit ihren 200 000 Seelen) eines literarischen Mittelpunktes. Ein Ersatzverein, der literarische Kammerabende veranstalten will, hat sich bis jetzt noch nicht genügend heraufarbeiten können. In Deutschland, wie auch in Österreich, wo Sie ja wohl noch wohnen, hat der Krieg finanziell und moralisch einen grossen Teil der Deutschen Kultur vernichtet, und der Rest wird auch noch zu Grunde gehen, wenn die unseligen Tendenzen siegen sollten, die neue Verwicklungen heraufzubeschwören im Stande sind.
Vielleicht ist es mir aber doch noch, trotzdem ich schon im 75. Lebensjahre stehe, vergönnt, Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin[5] nochmals von Angesicht[c] zu Angesicht zu sehen, und mit diesem Wunsche schliesse ich für heute dieses mein herzliches Dankschreiben.
Mit besten Grüssen Ihr aufrichtig ergebener
Vaihinger
P. S.[d] Vielleicht interessiert Sie das beilieg[ende] kleine Kunstblatt[6], eine Symbolisierung der „Philosophie des Als Ob“: der kniende Jüngling will sich wohl im unermesslichen Weltenraum an dem ihm entgegenleuchtenden Sternbild des Als Ob zu orientieren suchen.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑„Schmalen Weges zum Glück“ ] vgl. Paul Ernst: Der schmale Weg zum Glück. Roman. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft 1926.5↑Frau Gemahlin ] Paul Ernst war seit 1916 in 3. Ehe mit Else (Elisabeth), verwitwete von Schorn, verheiratet (NDB).▲