Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Martin Rade, Halle, 27.12.1922, 2 S., Ts. mit eU und hs. Änderungen sowie mit hs. Zusatz von anderer Hd., Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG.-RAT. | Halle a. S., den … 192… | Reichardtstr. 15, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Nachlass Knittermeyer, ad II Va Kn 1
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Nachlass Knittermeyer, ad II Va Kn 1
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Vaihinger an Martin Rade, Halle, 27.12.1922, 2 S., Ts. mit eU und hs. Änderungen sowie mit hs. Zusatz von anderer Hd., Briefkopf PROF. DR. HANS VAIHINGER | GEH. REG.-RAT.[a] | Halle a. S., den … 192… | Reichardtstr. 15, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Nachlass Knittermeyer, ad II Va Kn 1
27. Dez[ember] 1922
Hoch geehrter Herr Kollege Rade!
Am 14. Dezember schickte ich an Ihre Adresse ein Exemplar der Philosophie des Als Ob, das, wie schon früher erwähnt[b], speziell für Ihren Mitarbeiter Dr. Knittermeyer[c] bestimmt ist, der ja von Beruf Philosoph ist. Aber auch Ihre Interessen erstrecken sich ja auf das Gebiet der Philosophie, und so darf ich wohl hoffen, dass auch Sie gelegentlich einen Blick in das Buch hineinwerfen werden. Über das Buch wurde auch unter den Gästen des Hauses in Friedrichroda während meines Dortseins[d][1] manchmal lebhaft diskutiert. Dabei verhielt ich selbst mich ganz neutral und ganz reserviert, da ich ja nur zur Erholung[e] dort war, deren ich sehr bedürftig war. Aber auch sonst mache ich nie propaganda[f] für meine Anschauung, zumal ich selbst eben auf Grund meiner Anschauungen gegen fremde Meinungen äusserst tolerant[g] bin.
Diese schöne Toleranz[h] spührte ich auch in dem Friedrichrodaerheim[i], und da dieses ganz von Ihrem Geiste beseelt ist, so ist diese Toleranz[j] eben auch auf Sie und Ihre Einwirkung zurück zu führen. So fühlte ich mich in dem Heim[k], in welchem ich 5 Wochen zubringen durfte, sehr wohl mit meiner Frau zusammen, die demselben ja durch ihre Mitgliedschaft zu den Freunden der Christlichen Welt noch enger angehört. Der in dem Hause heimische Ton war meiner Frau und mir sehr sympathisch, und ich hoffe, auch bei den übrigen Gästen den Eindruck hinterlassen zu haben, dass mir die dortvertretenen Anschauungen wichtig und wertvoll sind.
Sogleich an einem der ersten Abende meines Aufenthaltes dort las Herr Pfarrer Arnold[2] aus der Freien Volkskirche einen Artikel von Pfarrer Mensing[3] vor aus Nr. 5 und 6 im Februar und März (meine Heimat ist meine Seele)[4]. In diesem Artikel wird zwischen religiösen Werten und religiösen Vorstellungen unterschieden. Die ersteren sind reale Vorgänge in uns, die Zweiten seien aber nur symbolische Spiegelungen und Mensing geht in seiner Kühnheit so weit, auch den Gottesbegriff für ein blosses Symbol zu erklären. Das klingt formell und sachlich[l] an die Philosophie des Als Ob an. |
Mit Interesse lasse ich mir von meiner Frau manche Aufsätze aus der „Christlichen Welt“[5] vorlesen, und ich finde auch dort hier und da Anklänge an die Auffassung von Mensing.
Auch die Cohen’sche Philosophie müsste, in ihre Konsequenzen[m] verfolgt auf ähnliche Lehren führen. Aber Cohen hat von seinem alttestamentlichen und fast islamitischen[n] starren Gottesbegriff aus den Weg zur echten Kantischen Als Ob Lehre nicht gefunden. Näher steht ihr schon Natorp in seiner Religion der Humanität, aber auch er ist vor dem Kantischen Als Ob scheu zurück gewichen. So musste die echte Kantische Als Ob Lehre nun doch einmal an das Tageslicht gestellt werden.
Wie mir in Friedrichroda Ihre Frau Gemahlin[6] mitteilte, hat Herr Dr. Knittermeyer bei seiner versuchten Habilitation Schwierigkeiten gefunden wegen seines ausgesprochenen Cohen’schen Standpunktes. Und das ist ganz natürlich. Die Schule Cohens hat ihre historisch bedeutsame Rolle glänzend gespielt, aber eben deshalb gehört sie gewissermassen schon der Vergangenheit an. Schon bei Cohen selbst und noch mehr bei Natorp haben sich die ursprünglichen Lehren der Schule aufgelöst in das Hegelsche Fahrwasser. Das ist ja der natürliche[o] Gang, und das geht bei allen Geistesströmungen in ähnlicher Weise.
Es wird also für Herrn Dr. Knittermeyer doch wohl notwendig werden, sich an der Gegenwart neu zu orientiren.
Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, den beiliegenden Brief[7] Herrn[p] Dr. Knittermeyer zu übergeben. Auch[q] dürfte es zweckmässig sein, ihm[r] diesen Brief an Sie zugänglich zu machen[8].
Meine Frau lässt sich Ihnen bestens empfehlen. Sie hat auch die gewünschte[s] Nachzahlung von 100 M.[t] geleistet, hat aber, da sich die Sache etwas verzögerte, 200 M. gesendet mit dem Motto: Bis dat, qui non[u] zito[v] dat.[9]
Ich bitte noch zu entschuldigen, dass ich diesen versprochenen Brief erst jetzt absende, aber Altersbeschwerden hinderten mich.
Mit der Bitte, mich Ihrer Frau Gemahlin bestens zu empfehlen, sowie mit herzlichen Neujahrswünschen Ihr ergebener
Vaihinger
Vielleicht interessiert es Sie, dass soeben eine „Volksausgabe“ der Philosophie des Als-Ob[10] erschienen ist, die nur etwa ⅓ des Umfanges des Originals beträgt. Diese Volksausgabe ist schon zu Weihnachten stark verbreitet worden. – Ferner ist soeben auch eine „Einführung in die Philosophie des als Ob“[11] von Studienrat Fließ[w][12] in Aschersleben erschienen, im Verlage von Velhagen u. Klasing (als Teil der „Bücherei der Volkshochschule“).[x]
Kommentar zum Textbefund
l↑sachlich ] am Zeilenende zunächst vertippt: sachlc; dann l mit Bindestrich übertippt und in der folgenden Zeile zu Ende geschriebenKommentar der Herausgeber
3↑Pfarrer Mensing ] d. i. wahrscheinlich Carl Richard Mensing (1863–1953), 1890–1926 Pfarrer in Dresden, 1934 in Chemnitz (https://d-nb.info/gnd/116885696 (30.4.2024)).4↑Artikel … Seele) ] vgl. Mensing: Meine Heimat ist meine Seele I. In: Die freie Volkskirche 10 (1922), Heft 5 vom Februar 1922, S. 71–73, sowie ders.: Meine Heimat ist meine Seele II. In: Die freie Volkskirche 10 (1922), Heft 6 vom 12. März 1922, S. 82–83.5↑„Christlichen Welt“ ] Rade gründete 1886 die Zeitschrift Die Christliche Welt und gab sie bis 1931 heraus (NDB).9↑Bis dat, qui non zito dat. ] meint vermutlich: Bis dat, qui non cito dat. Lat.: Doppelt gibt, wer nicht schnell gibt. Anspielung auf eine Sentenz des Publilius Syrus, vgl. etwa Wölfflin, Eduard: Publii Syri Sententiae. Leipzig: Teubner 1869, S. 81: Inopi beneficum bis dat, qui dat cereliter. Vgl. ebd., S. 75, Apparat zu Nr. 141. Eine Übersetzung bietet Beckby, Hermann (Hg. u. Übersetzer): Publilius Syrus. Sprüche. München: Ernst Heimeran Verlag (Sammlung Tusculum) 1969, S. 33: Wer rasch dem Armen spendet, spendet doppelt.10↑„Volksausgabe“ der Philosophie des Als-Ob ] Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. Volksausgabe. Leipzig: Meiner 1923, erschien bereits 1922, vgl. die annotierte Bibliographie.11↑„Einführung in die Philosophie des als Ob“ ] vgl. Fließ, Bernhard: Einführung in die Philosophie des Als Ob. Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing 1922 (Die Bücherei der Volkshochschule Bd. 41).12↑Studienrat Fließ ] Bernhard Fließ (1873–unbekannt), Pädagoge (https://d-nb.info/gnd/116615354 (29.4.2024)).▲