Bibliographic Metadata
- TitleFritz Mauthner an Vaihinger, Meersburg, 16.4.1920, 2 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 8 h, Nr. 4
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 8 h, Nr. 4
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Fritz Mauthner an Vaihinger, Meersburg, 16.4.1920, 2 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 8 h, Nr. 4
Meersburg 16.IV.20
Verehrter Herr Geheimrat,
zunächst zwei Bekenntnisse. Den Glückwunsch der Kantgesellschaft[1] habe ich in sehr trüber Stimmung ein wenig schnöde beantwortet, weil – ganz offen – mir ihre private Ehrung im Widerspruch zu stehen schien mit der öffentlichen Behandlung, die mir gelegentlich in den Kant-Studien zu Teil geworden war. Pater peccavi[2]! Ich muß mich da unphilosophischer Eitelkeit bezichtigen. Mein zweites Bekenntniß ist ebenso kleinlich, aber ganz andrer Art. Ihr ehrender persönlicher Glückwunsch[3] zu meinem 70. Geburtstage, am 14. Nov[ember] abgeschickt, mag pünktlich eingetroffen sein, wurde aber von meiner[a] (als verfrüht) bei Seite gelegt, für den richtigen Tag, dann aber offenbar vergessen und verkannt. Heute erst ist er wiederentdeckt worden und hat mir in diesen Tagen (da eine Pfaffenhetze, wegen Gottlosigkeit, mich langsam um alles Behagen zu bringen droht) ernstlich wohl getan. Ich danke Ihnen auf’s wärmste.
Besonders intim berührte mich Ihre gütige Mitteilung, daß Sie schon | 1874 auf meine unreife Persönlichkeit aufmerksam gemacht wurden, durch Susanna Rubinstein, die von mir recht sehr angeschwärmte Collegin, der ich 2 Jahre früher mein Erstlingswerk[4], eine dichterische Verherrlichung der großen Revolution, gewidmet hatte. Sie haben mit diesen Worten hundert Erinnerungen an meine Jugend geweckt; auch dafür Dank – so alt u. krank ich bin.
Vom freundlichen Hinweise auf Ihre Annalen weiß ich nicht, ob er zugleich eine Aufforderung zur Mitarbeit[5] sein soll. Jedenfalls wäre dies fast ausgeschlossen, weil ich (mit der Drucklegung eines neuen großen Werkes „Geschichte des Atheismus“ beschäftigt, dessen fast letzten Abschnitt die Philosophie des Alsob bildet[6]) an kleinere Arbeiten gar nicht zu gehen vermag. Und ein fertig gestelltes „Letztes Wort“ zu meiner Kritik der Sprache[7] nicht recht in Ihr Programm passen würde. Ich werde wohl zeitlebens in meiner selbst verschuldeten Einsamkeit bleiben.
In Verehrung und mit herzlich ergebenen Grüßen Ihr
Fritz Mauthner
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑mein Erstlingswerk ] vgl. Mauthner: Die große Revolution. Epigramme. Leipzig: Leiner 1872, nach anderen Angaben 1873. Nachgewiesen in der Staatsbibiothek Berlin (Signatur Yo 14470), für die Widmung vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Susanna_Rubinstein#/media/Datei:Mauther_Widmung_an_Rubinstein.jpg (aufgerufen 24.6.2022; Aufnahme nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Berlin).5↑Aufforderung zur Mitarbeit ] Mauthner hat nicht in der von Vaihinger und Raymund Schmidt hg. Zeitschrift Annalen der Philosophie. Mit besonderer Rücksicht auf die Probleme der Als Ob-Betrachtung veröffentlicht.6↑fast letzten Abschnitt die Philosophie des Alsob bildet ] Mauthner setzt sich mit Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob (1911 u. ö.) auseinander in: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Drittes Buch. Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlagsanstalt 1922, S. 219–220 sowie in dass., Viertes Buch (1923), S. 28–35 u. S. 56–72 (zu Fichte und Forberg). Auf S. 29–30 heißt es dort: So bildet Kant z. B., und unmittelbar nach einer der entschiedensten Formulierungen seiner Ketzerei […] den Satz: „Hierauf gründet sich der Satz der Erkenntnis aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote.“ Dieses „als“ erblickt Vaihinger, fängt es ein und spießt es auf. Im deutschen Sprachgebrauche jedoch enthält nicht jedes „als“ ein Bekenntnis zur Fiktionenlehre. An unserer Stelle bedeutet „Erkenntnis der Menschenpflichten als göttlicher Gebote“ einfach die „Erkenntnis, daß Menschenpflichten göttliche Gebote sind“; nicht etwa, „die falsche Meinung, als ob Menschenpflichten göttliche Gebote seien“. Wenn ich sage, „Vaihinger hat seinen Kommentar geschrieben als ein Kenner Kants“, dann will ich ganz ehrlich sogar sagen, Vaihinger sei bekanntlich ein Kenner Kants und habe seinen Kommentar also oder so geschrieben; nicht aber: „Vaihinger schrieb, als ob er ein Kenner Kants wäre“ (vgl. die wörtliche Wiederholung in Mauthner: Als ob. In: Ders.: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zur Kritik der Sprache Bd. 1. 2., vermehrte Aufl. Leipzig: Meiner 1923, S. 25–44). – S. 69 findet sich die Anmerkung: Ich verdanke die Mitteilung auch dieses seltenen Büchleins der Güte des Herrn Professors Hans Vaihinger, der mir übrigens seine ganze kostbare Sammlung der Flugschriften aus dem Atheismusstreite zur Verfügung stellte, freigebiger, als manche öffentliche Bibliothek in diesen Zeitläuften sich bewies (vgl. Vaihinger an Mauthner vom 6.10.1920 und vom 9.1.1921).7↑„Letztes Wort“ zu meiner Kritik der Sprache ] Gemeintes nicht ermittelt, für eine Bibliographie Mauthners vgl. https://www.gleichsatz.de/b-u-t/221149/biblio3.html (24.6.2022).▲