Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Houston Stewart Chamberlain, Halle, 28.1.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Richard Wagner Museum (Bayreuth), Chamberlain-Nachlass, Rot 196/466
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationRichard Wagner Museum (Bayreuth), Chamberlain-Nachlass, Rot 196/466
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Vaihinger an Houston Stewart Chamberlain, Halle, 28.1.1916, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf (Stempel) Univ-Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | Reichardtstrasse 15., Richard Wagner Museum (Bayreuth), Chamberlain-Nachlass, Rot 196/466
28.1.1916.
Herrn Houston[a] Stuart[b] Chamberlain, Bayreuth, Villa Wahnfried.
Hochgeehrter Herr!
Es sind nun viele Jahre her, dass ich mit Ihnen in Verbindung[1] stand, welche dadurch entstanden war, dass ich über Ihre nunmehr in 10. Auflage vorliegenden „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ in den „Kantstudien“ einen Artikel schrieb, in welchem ich Ihr schönes Verhältnis zu Kant in jenem Werke rühmen durfte.
Ich habe in neuerer Zeit wiederum Gelegenheit gehabt, Ihr Kantverständnis rühmend hervorzuheben. In meiner „Philosophie des Als Ob“ habe[c] ich unter Denjenigen, welche die Kantische Als Ob-Betrachtung als den letzten und tiefsten Sinn der Kantischen Lehre erfasst haben, auch Ihren Namen genannt[2].
Ich weiss nicht, ob dieses Werk Ihnen bekannt geworden ist. Jedenfalls erlaube ich mir, Ihnen ein Exemplar des Buches zu überreichen mit der Bitte, das Buch Ihrer Bibliothek einzureihen. Schon aus dem Titel des Werkes ersehen Sie, dass es sich auch besonders auf Kant bezieht. Ich habe der Kantischen Als Ob-Betrachtung mehr als 100 Seiten gewidmet und, ich glaube, eine erschöpfende Darstellung Desjenigen gegeben zu haben[d], was Kant hierüber gesagt hat. (Seite 613 bis Seite 733) Der ausserordentliche Reichtum der Kantischen Ausführungen über die Als Ob-Betrachtung ist bisher noch niemals in dieser Weise hervorgekehrt worden. Es ist eine ganz überraschende Fülle merkwürdiger Stellen hierüber bei Kant vorhanden, und seine ganze Philosophie bekommt dadurch eine eigenartige Beleuchtung.
Natürlich musste dies auch schon anderen auffallen und unter diesen darf Ihr Name in erster Linie genannt werden und ich habe mich daher auch besonders darüber gefreut, dass ich in den einleitenden Vorbemerkungen (Seite XIV) mich auf Sie berufen konnte.
Dass Sie gerade für diese Seite der Kantischen Lehre besonders empfänglich sein mussten, das war mir schon durch die Lektüre Ihres grossen Wagner-Werkes[3] wahrscheinlich geworden: als ich mir dieses im Jahre 1902 während eines schweren Augenleidens vorlesen liess, habe ich viele Stellen anstreichen lassen, in denen mir aus Ihrer Schilderung Richard Wagners, speziell seiner Lehre vom „Wahn“ entgegentrat, dass auch dieser grosse Genius ähnliche Gedankengänge hatte.
So waren Sie besonders darauf vorbereitet, die allgemeine | Bedeutung der Kant’schen Als Ob-Betrachtung richtig zu erkennen und so wird es mir von besonderem Werte sein, wenn Sie meine Darstellung der Kantischen Lehre nachprüfen wollen.
Freilich erfahre ich jetzt durch Herrn Konsul Ludowici[e][4], dass Sie gegenwärtig mit der Neubearbeitung Ihres „Goethe“[5] beschäftigt sind, aber gerade auch bei Goethe finden sich merkwürdige Stellen, aus denen hervorgeht, dass gerade für ihn die Fiction oder die bewusste Selbsttäuschung[f] ein wichtiges Moment der Weltanschauung war. Besonders erkannte er die Bedeutung dieser bewussten Selbsttäuschung für die Kunst. Hierüber ist übrigens auch schon im Jahre 1904 eine eigene kleine Schrift erschienen: „Die Illusionstheorie und Goethes Ästhetik“[6]. Heyfelder ist ein Anhänger der Ästhetik von Konrad Lange (Professor an der Universität Tübingen), welcher in seinem Werke „Das Wesen der Kunst“[7] die bewusste Selbsttäuschung als ein Hauptprinzip aller Kunst erkannte. Über das Verhältnis von Konrad Langes Theorie zu meiner eigenen habe ich in der Einleitung meines Buches Seite XIII[8] einiges gesagt.
So dürfte es gerade jetzt für Sie und für Ihr grosses und schönes Goethewerk von Wert sein, diese Seite der Goetheschen Auffassung von Kunst und Leben, von Wissenschaft und Religion besonders scharf ins Auge zu fassen. Goethe erkannte[g] den Wert und die Notwendigkeit des Scheines und der Täuschung in allen diesen Gebieten.
In meiner Philosophie des Als ob habe ich diese Auffassung von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus zu begründen gesucht. Dieser allgemeine Gesichtspunkt erlaubt es mir, die Fictionen auch in allen Gebieten der einzelnen Wissenschaften zu verfolgen, und die Bedeutung der Fiction für die ganze Methodologie überhaupt durchzuführen, besonders auch durch verschiedene Naturwissenschaften.
Die seltene enzyklopädische Bildung, deren Sie sich erfreuen, und welche in der heutigen Zeit des Spezialistentums doppelt wertvoll ist, setzt Sie in den Stand, dasjenige nachzuprüfen, was ich darüber sagen konnte. Ein schweres Augenleiden, welches mir seit Jahren das Lesen immer mehr unmöglich gemacht hat, hat mich verhindert, meinem Buche denjenigen Abschluss zu geben, den ich ihm gerne hätte angedeihen lassen, und so werden Sie in dem Werke viele Lücken finden; aber auch in seiner jetzigen Form vermag es doch vielleicht Ihr Interesse zu erwecken.
Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener
Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑mit Ihnen in Verbindung ] vgl. den Briefwechsel Vaihinger/Chamberlain in den Jahren 1900, 1902, 1903 u. 1904.4↑Konsul Ludowici ] d. i. August Ludowici (1866–1945), Ziegelfabrikant, Mäcen und Freund Chamberlains, der u. a. 1902 15 000 Mark zur Verfügung stellte, um das Werk: Grundlagen des XIX. Neunzehnten Jahrhunderts kostenlos an Schulen und öffentliche Bibliotheken ausgeben zu können (vgl. Klaus E. Bohnenkamp (Hg.): Rudolf Kassner und Houston Stewart Chamberlain. Briefe und Dokumente einer Freundschaft. Berlin/Münster: Lit 2020, S. 16, Anm. 72).6↑„Die Illusionstheorie und Goethes Ästhetik“ ] vgl. Erich Heyfelder: Die Illusionstheorie und Goethes Ästhetik. Freiburg i. B.: Heyfelder 1904 (Ästhetische Studien Heft 2).7↑„Das Wesen der Kunst“ ] vgl. Konrad Lange: Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer illusionistischen Kunstlehre. Berlin: Grote 1901; 2. Aufl. 1907.▲