Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Maximilian Harden, Halle, 10.11.1914, 2 S., Ts. mit eU und hs. Korrekturen, Briefkopf GEH. REG.-RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Harden, N1062-108
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- Physical LocationBundesarchiv Koblenz, Nachlass Harden, N1062-108
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Vaihinger an Maximilian Harden, Halle, 10.11.1914, 2 S., Ts. mit eU und hs. Korrekturen, Briefkopf GEH. REG.-RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER.[a] | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Harden, N1062-108
10.11.1914.
Verehrter Herr Harden!
Es ist mir nachträglich eingefallen, dass ich vergessen habe, Ihnen die Adresse des Herrn Dr. Lapp mitzuteilen, um ev[entuell] die[b] Correctur seiner Selbstanzeige[1] durch ihn besorgen lassen zu können. Ich sende Ihnen daher die Adresse heute und spreche Ihnen bei dieser Gelegenheit meinen verbindlichsten Dank für Ihre Bereitwilligkeit aus, seine Selbstanzeige aufnehmen zu wollen.
Ihr Brief vom 29. Oktober[2] hat mich sehr interessiert und gleichzeitig auch sehr geehrt, indem er mir ein sehr schätzenswertes Zeichen Ihres Vertrauens war und ist. Aus Ihren Mitteilungen und Andeutungen geht hervor, dass Sie sehr vieles zu sagen hätten, was aber jedoch nicht öffentlich gesagt werden kann. So werden Sie nach dem Kriege Ihren grossen Köcher ausschütten und viele Enthüllungen bringen, welche historisch bedeutsam sind und welche ganz neue Schlaglichter auf die Entwicklung der Dinge werfen werden. Wem es nicht vergönnt ist – und das sind ja die meisten – so hinter die Kulissen zu schauen, wie das bei Ihnen der Fall ist, dem die wertvollsten und geheimsten Nachrichten vom In- und Auslande zuströmen, der muss versuchen, sich aus den Fragmenten, die ihm bekannt werden, sein eigenes unabhängiges Urteil zu bilden. Das ist um so mehr der Fall, als ja durch die gegenwärtige Situation gerade einem Mann wie Ihnen Schweigen auferlegt ist. Um so mehr bewundere ich das Geschick, mit dem Sie in Ihren Aufsätzen über die heikle Lage hinwegkommen und Licht und Schatten gerecht zu verteilen suchen, soweit das jetzt möglich ist. In diesem Sinne las ich mit grösstem Interesse Ihren Aufsatz, der an die[c] Adresse der Engländer[3] gerichtet war, sowie jetzt Ihren neusten Artikel, der vom 7. November[4] datiert ist. In diesem haben Sie auch das, was über Hodler[5] zu sagen ist, in treffendster Weise ausgeführt. Diese Frage interessiert mich um so mehr, als ich gerade in der Zeit, als die Frage spielte, 10 Tage lang in Jena war, zur Behandlung bei einem dortigen Augenarzt. In Jena, wo sein Hauptbild[6] hängt, war die Aufregung gross. Der alte Haeckel, persönlich ein Mann von rührender Herzlichkeit, hat in seiner Erklärung gegen Hodler[7] auch die Grenze[d] überschritten.
Das tat[e] er auch, als er dazu aufrief, die aus England stammenden Würden dort[f] den Gelehrten zurückzugeben.[8] Leider haben sich dieser Bewegung sehr viele deutsche Gelehrte angeschlossen. Diejenigen, welche den deutschen Gelehrten diese Würden gegeben haben, sind ja unsere Freunde: sie bedauern, wie man von einzelnen weiss, am meisten den Krieg und die englische Kriegserklärung[g]. Wenn wir englische Gelehrtenwürden jetzt zurückweisen, so machen wir uns ja gerade diejenigen, die in England noch unsere Freunde sind, auch noch zu unseren Gegnern und heben den Rest[h] der | Kulturgemeinschaft auf, die noch zwischen England und Deutschland vorhanden ist. Wir ziehen ja dadurch den Vorwurf auf uns, die nationalen Gegensätze in das Gebiet der Wissenschaft hineinzutragen, welche doch über solcher Gegnerschaft stehen soll. Früher haben das nur die Franzosen getan,[i] wir sollten ihnen das nicht nachmachen. Zum Glück ist die Bewegung ja wieder zurückgegangen, es haben sich doch unter den Gelehrten selber[j] Stimmen dagegen erhoben und ich selbst habe in meinem Kreise hier das meinige dazu getan, jene Bewegung abzuschneiden.
Jene Bewegung stand auf demselben Blatte, wie die Fremdwörterhetze, welche überall entfacht wurde und gegen die ich auch meinerseits mich betätigt habe[9], soweit meine schwachen Kräfte – ich leide nicht blos an den Augen, sondern auch an allerlei sonstigen körperlichen Beschwerden – das erlauben. Ich nehme den Standpunkt ein[k], dass Fremdwörter, soweit sie nicht tatsächlich nachweisbar überflüssig sind, nicht blos ein Schmuck der deutschen Sprache sondern eine Bereicherung derselben sind; ja, sie dienen gerade dazu, die deutsche Sprache dazu zu befähigen, immer mehr die Stellung einer Weltsprache einzunehmen, da nun doch einmal das deutsche Volk immer mehr auf eine Weltmachtstellung Anspruch machen darf.
Indessen solche Übertreibungen[l] dürfen nicht irre machen an dem grossartigen Aufflammen des nationalen Selbstbewusstseins. Wenn diesem Aufflammen der Erfolg nachher entspricht, so war es gerechtfertigt und so war auch unsere ganze[m] Sache eine gerechte: „denn aller Ausgang ist ein Gottesurteil“[10].
Was Sie mir in Ihrem Brief über Österreich schrieben, wird durch Privatnachrichten bestätigt, welche von Tisch zu Tisch, von Haus zu Haus leise erzählt werden: dass zwischen den österreichischen und zwischen[n] den deutschen Heerführern Uneinigkeit besteht, dass die Österreicher zu langsam operieren, dass sie nicht ihre volle Kraft einsetzen. Indessen, wer ist imstande, alle solche Gerüchte zu kontrollieren? Das kann nur derjenige tun, der, wie das bei Ihnen der Fall ist, zuverlässige Nachrichten erhält.
Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener
Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑seiner Selbstanzeige ] vgl. Lapp, Adolph: Selbstanzeige: Die Wahrheit. Ein erkenntnistheoretischer Versuch, orientirt an Rickert, Husserl und Vaihingers „Philosophie des Als-Ob“. W. Speemann in Stuttgart. 2,50 Mk. In: Die Zukunft 90 (1915), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 13.2.1915, S. 215–217.3↑Ihren Aufsatz … Adresse der Engländer ] meint vermutlich o. A.: An die Engländer. In: Die Zukunft 89 (1914), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 31.10.1914, S. 129–160; Harden veröffentlichte allerdings weitere Texte mit Bezug zu England, etwa in Die Zukunft 88 (1914), dort auch einen Abschnitt, auf den im u. g. Artikel vom 7.11.1914 Bezug genommen wird: o. A.: Wir sind Barbaren. In: Die Zukunft 88 (1914), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 29.8.1914, S. 269–291, darin: Das neue Waterloo, S. 283–286.4↑Ihren neusten … vom 7. November ] vgl. o. A.: Wir helfen uns selbst. In: Die Zukunft 89 (1914), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 7.11.1914, S. 161–187.5↑über Hodler ] Ferdinand Hodler (1853–1918), Maler, 1914 Unterzeichner des Protests gegen die Beschießung der Kathedrale von Reims (NDB). Gegen letzteres polemisiert Harden im von Vaihinger gemeinten Artikel, vgl. o. A.: Wir helfen uns selbst. In: Die Zukunft 89 (1914), Hg. Maximilian Harden, Heft vom 7.11.1914, S. 161–187, insbesondere den Abschnitt: Die Künstler, S. 175–179.6↑sein Hauptbild ] meint wahrscheinlich das 1908 von der Universität Jena beauftragte und 1909 fertiggestellte Gemälde „Auszug der deutschen Studenten in den Freiheitskrieg von 1813“, das im Oktober 1914 nach Hodlers Unterzeichnung des Protests gegen die Beschießung der Kathedrale von Reims auf Bestreben Haeckels, Rudolf Euckens u. a. mit einem Bretterverschlag verdeckt worden war, vgl. Steiger, Günter: Dokumente aus dem Jenaer Universitätsarchiv und der Universitätsbibliothek zum „Fall Hodler“. Der „Fall Hodler“ im Spiegel der Jenaer Quellen (Vorbemerkung zur Edition, Aussagewert und Charakter der Quellen). In: Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Hg.): „Fall Hodler“ Jena 1914–1919. Der Kampf um ein Gemälde. Jena: Friedrich-Schiller-Universität 1970, S. 49–61, hier S. 53. Vom 5.7. bis 12.7.1914 fand zudem eine Vorbesichtigung der neuen Kunstsammlung des Kunstvereins Jena statt, in der andere Gemälde Hodlers zu sehen waren, vgl. Bätschmann, Oskar / Müller, Paul (Hg.): Ferdinand Hodler. Catalogue raisonné der Gemälde. Online-Version: https://recherche.sik-isea.ch/sik:exhibition-10763336/in/catalogues.hodler/ (25.4.2024), es ist kein Ausstellungskatalog ermittelt.7↑Erklärung gegen Hodler ] vgl. Haeckel: Erklärung betreffend das Hodler-Bild in der Universität Jena. In: Jenaer Volksblatt 25 (1914), Nr. 257 vom 1.11.1914, Beilage; vgl. ders.: Offener Brief an Monsieur Ferdinand Hodler, Historienmaler in Genf. In: Jenaer Volksblatt 25 (1914), Nr. 244 vom 17.10.1914, 2. Blatt. Wiederabgedruckt in: Saale-Zeitung, Nr. 488 vom 17. Oktober 1914, Abend-Ausgabe, S. 2; mit weiteren Dokumenten zur Sache ediert in: Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Hg.): „Fall Hodler“ Jena 1914–1919. Der Kampf um ein Gemälde. Jena: Friedrich-Schiller-Universität 1970; vgl. zum historischen Zusammenhang die Vorbemerkung Steigers im selben Band (s. o.).8↑Das tat er … zurückzugeben. ] vgl. Haeckel, Ernst: Erklärung. In: Jener Volksblatt. Organ der Fortschrittlichen Volkspartei des 3. Weimarischen Reichstagswahlkreises, Nr. 205 vom 2. September 1914, S. 3. Gemeldet in: Saale-Zeitung, Nr. 410 vom 2.9.1914, 1. Beiblatt zur Abend-Ausgabe, S. 2.9↑Fremdwörterhetze … betätigt habe ] vgl. Vaihinger: Offener Brief an Frau Liesbeth Dill. Halle, den 27. August 1914. In: Saale-Zeitung, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt zu Nr. 402 vom 28.8.1914, sowie ders.: Erwiderung auf den offenen Brief des Herrn Professors Dr. Bremer. In: Saale-Zeitung, Morgen-Ausgabe, Nr. 407 vom 1.9.1914; vgl. Vaihinger an Hans Delbrück vom 18.3.1915.10↑„denn aller Ausgang ist ein Gottesurteil“ ] wörtliches Zitat (abgesehen von der Orthographie) aus Friedrich Schillers Wallenstein (Wallensteins Tod, 1. Aufzug, 7. Auftritt, Vers 473), vgl. Oellers, Norbert (Hg.): Schillers Werke. Nationalausgabe. Neue Ausgabe, Bd. 8. Wallenstein. Text II. Weimar: Hermann Böhlhaus Nachfolger 2010, S. 631.▲