Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Wilhelm Wundt, Halle, 15.8.1912, 4 S., hs. (eigenhändig mit eU), Briefkopf GEH. REG.–RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Universitätsbibliothek Leipzig, https://collections.uni-leipzig.de/item/UBLNachlassWundt_mods_00001138
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Vaihinger an Wilhelm Wundt, Halle, 15.8.1912, 4 S., hs. (eigenhändig mit eU), Briefkopf GEH. REG.–RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Universitätsbibliothek Leipzig, https://collections.uni-leipzig.de/item/UBLNachlassWundt_mods_00001138
15.VIII.12
Ew Excellenz.
In dem, gewiß schier unübersehbaren Reigen der Gratulanten zu Ihrem 80. Geburtstage[1], möchte ich nicht fehlen; habe ich doch auch vor nunmehr fast 40 Jahren[2] noch in Leipzig zu Ihren Füßen gesessen.
Vielleicht haben Sie, durch meine frühere Tätigkeit, den Eindruck gewonnen, daß ich damals bei Ihnen nicht allzuviel gelernt habe: sonst hätte ich nicht die „Kant-Philologie“ zu meinem Felde erkoren. | Daß ich mich mit Kant so intensiv beschäftigt habe, hatte zunächst rein äußere Gründe[3].
Jetzt aber habe ich vor Kurzem meine eigene Weltanschauung zum Ausdruck gebracht in meiner „Philosophie des Als Ob“[a][4] – diese aber stammt ihrer Entstehung und Ausführung nach gerade aus der Zeit[5], in der ich das Glück hatte, Ihre ausgezeichneten Vorlesungen in Leipzig zu hören.
Meine Weltanschauung ist durch die Eindrücke, die ich in | Ihren Vorlesungen und durch Ihre Persönlichkeit bekam, erheblich mitbestimmt worden: ist meine eigene Anschauung doch durchaus psychologisch und dazu voluntaristisch.
Darum sind die eigentlichen und echten Kantianer mir sehr gram: aber ich selbst freue mich, daß es mir noch vergönnt war, meiner eigenen Anschauung Ausdruck zu verleihen. In der Vorrede zu meinem Werk habe ich daher, um jene Coïncidenz mit wesentlichen Grundgedanken von Ihnen zur Geltung zu bringen, auch | Ihren Namen genannt[6] unter denen, mit denen mich sachliche Beziehungen verknüpfen[b].
So mögen Sie daraus wenigstens so viel entnehmen, daß Sie auch den Samen ausgestreut haben, wo es nicht so zu sein schien; jedenfalls fühle ich mich Ihnen und Ihrem Unterricht verpflichtet.
Mögen Ihnen, bei Ihrer bewundernswerten Frische, noch viele Jahre fruchtbaren Wirkens beschieden sein: Wie frisch Sie noch sind, weiß ich nicht blos aus Ihrer literarischen Tätigkeit, sondern insbesondre auch aus den Schilderungen unseres hiesigen Collegen Krueger[7], der mir oft von Ihnen erzählt.
In alter Verehrung Ew. Excellenz ganz ergebenster
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑äußere Gründe ] des Gelderwerbs, vgl. Vaihinger: Wie die Philosophie des Als Ob entstand. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 2. Hg. v. Raymund Schmidt. Leipzig: Meiner 1921, S. 191–192: In den letzten Monaten des Jahres 1876 schrieb ich nun als Habilitationsschrift meine Gedanken in einem großen Manuskript nieder, dem ich den Titel gab: „Logische Untersuchungen. 1. Teil: Die Lehre von der wissenschaftlichen Fiktion.“ Da ich seit mehreren Jahren das Material sorgfältig gesammelt und oft und gründlich durchdacht hatte, ging die Niederschrift rasch vor sich. Zu Neujahr reichte ich das Manuskript ein und Ende Februar 1877 hatte ich schon die venia legendi in der Hand. Was ich an der Fakultät einreichte und was sie in dieser Weise approbierte, das ist genau dasselbe, was ich im Jahre 1911 als „erster prinzipieller Teil“ der „Philosophie des Als-Ob“ im Druck erschienen ist. Ich entwickelte darin das ganze System der wissenschaftlichen Fiktionen, d. h. der Als-Ob-Betrachtungen, die in den verschiedensten Wissenschaften praktisch angewendet werden, und suchte eine erschöpfende Theorie dieses mannigfaltigen Als-Ob-Verfahrens zu geben. Aber mit Laas betrachtete ich selbst diese Habilitationsschrift nur als einen ersten Entwurf, der noch vielfacher Ergänzung und Verbesserung bedürfe und so verwendete ich die nächsten beiden Jahre, soweit mir die Vorlesungstätigkeit dazu Zeit ließ, dazu an, das Manuskript umzuarbeiten. Diese Tätigkeit wurde genau nach zwei Jahren, im Januar 1879, jäh unterbrochen. Der Tod meines Vaters nötigte mich, mich nach einer lohnenderen Tätigkeit umzusehen und so schloß ich mit dem weitblickenden und großherzigen Verleger W. Spemann einen für mich sehr günstigen Vertrag über einen Kantkommentar zum hundertjährigen Jubiläum von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ für 1881.4↑„Philosophie des Als Ob“ ] Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Berlin: Reuther & Reichard 1911.6↑auch Ihren Namen genannt ] in den Vorbemerkungen zur Einführung zu: Philosophie des Als Ob (1911) wird Wundt mit Friedrich Paulsen als Vertreter eines Voluntarismus und somit als Wegbereiter einer Philosophie des Als Ob aufgeführt.7↑hiesigen Collegen Krueger ] Felix Krueger (1874–1948), Psychologe, u. a. 1898–1899 an Wundts Leipziger Institut für experimentelle Psychologie, 1910–1917 o. Prof. in Halle, 1917 Nachfolger Wundts in Leipzig (BEdPh).▲