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- TitleVaihinger an Paul Natorp, Halle, 22.3.1909 (1), 6 S., hs., Briefkopf KANTGESELLSCHAFT. Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15. | GESCHÄFTSFÜHRER | PROF. DR. H. VAIHINGER., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1101
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1101
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Vaihinger an Paul Natorp, Halle, 22.3.1909 (1), 6 S., hs., Briefkopf KANTGESELLSCHAFT. Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15. | GESCHÄFTSFÜHRER | PROF. DR. H. VAIHINGER., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1101
22.III.1909
Verehrtester Herr College!
Herr Coll[ege] Menzer hat mir das von Ihnen vorläufig formulirte Preisurtheil[1] theilweise vorgelesen. Ich habe natürlich kein Recht, in Ihre Entscheidungen einzugreifen, da ich selbst ja nicht Preisrichter bin; mit der mir gebührenden Zurückhaltung und Bescheidung wage ich daher Ihnen folgendes vorzutragen, wozu ich vielleicht darum doch berechtigt bin, da ich die Intentionen des Preisstifters am besten kenne, auf die es doch hierbei auch etwas ankommt.
Und so darf ich nun sogleich vorausschicken, daß ich die Bedenken des Herrn Collegen Menzer durchaus theile: mit der Voranstellung der Arbeit Nr II[2] würde den Intentionen des Preisstifters, wie sie ja auch in dem Preisausschreiben angedeutet sind, nicht entsprochen werden, wenigstens wenn diese Arbeit den ersten Preis erhielte. Aus Ihrem Referat selbst geht hervor, daß diese Arbeit den gestellten Beding[ungen] | nicht entspricht. Das Preisausschreiben (vgl. K[ant-] St[udien] Band XI, S. 295) verlangt ganz ausdrücklich eine Kritische Geschichte des Theodiceeproblems im 18. Jahrhundert. Der geschichtliche Gesichtspunct ist dem Preisstifter mindestens ebenso wichtig, als der systematische. Dieser Bedingung entspricht aber, Ihrem eigenen Referat nach, jene Arbeit Nr II nicht. Ich befürchte, daß der Preisstifter sehr enttäuscht sein würde, wenn diese Arbeit, welche das Geschichtliche so wenig eingehend behandelt, für „absolut-preiswürdig“ erklärt würde.
Auch den Intentionen der Kantgesellschaft, welche die Preisaufgabe auszuschreiben hat, würde es doch nicht recht entsprechen, wenn eine Arbeit, in welcher Kants Schrift über die Theodicee als seine schwächste bezeichnet wird, den 1. Preis erhielte. Wir, d. h. die Kantgesellschaft, sind gewiss sehr weitherzig und sehr tolerant, aber wir müßten uns doch vor uns selbst und vor | der Welt selbst annulliren, wenn wir eine Arbeit, welche so wenig von Kants Geist hat, welche direct ins metaphysische Fahrwasser hineingeräth – alles nach Ihrem eigenen Bericht – die Palme reichen. Wenn Sie und Coll[ege] Ziegler es verlangen, thun wir es natürlich[a] – aber ich möchte doch wenigstens den bescheidenen, und unmaßgeblichen Versuch machen, Ihnen meine Gesichtspunkte vorzutragen, die, wie ich glaube annehmen zu dürfen, auch[b] von der Mehrzahl der Mitglieder der Kantgesellschaft getheilt werden.
Der bloß formale Scharfsinn der Arbeit Nr II, der von Ihnen gerühmt wird, sollte aber doch nicht allein ausschlaggebend sein, der materielle Gehalt: der Standpunkt, das kritisch befriedigende oder unbefriedigende Ergebniß ist doch dabei auch einigermaßen zu berücksichtigen, zumal doch die Arbeit auch das Historische nur mehr voraussetzt und streift als eingehend behandelt, was doch verlangt war. |
Den Vorschlag, den Herr Coll[ege] Menzer Ihnen seinerseits übermittelt, stimme ich meinerseits voll und ganz zu, um so mehr, als dieser Vorschlag Ihrem eigenen Standpunkt selbst entgegenkommt.
Da die Arbeit Nr II sowol historisch als systematisch nicht befriedigend ist, so scheint es mir, daß der I. Preis überhaupt nicht vergeben werden kann, da eine „absolut preiswürdige“ Arbeit nicht eingelaufen ist, wie in dem Ausschreiben (unter Nr 10 der Bedingungen) ausdrücklich gesagt ist. Ich glaube, daß eine gewisse Rigorosität hier notwendig ist. Es macht sich auch nach außen hin doch nicht gut, wenn die Kantgesellschaft mit einem Ersten und so hohen Preis einer Arbeit krönt, welche – Ihrem eigenen Bericht nach – beim Preisrichter und bei der Majorität der Mitglieder und vielen Außenstehenden trotz ihrer großen Vorzüge Anstoß erregen muß –denn wo bleibt da die kritische Geschichte, wo bleibt der Geist des Kriticismus, wenn –mit noch so vielem Scharfsinn – uns eine Metaphysik geboten wird. |
Es[c] ist sehr bedauerlich, daß nicht eine absolut befriedigende Arbeit eingelaufen ist – aber dann ist es doch wol besser, wenn hierin nun streng verfahren wird.
Gerade eine eingehende und ausführliche Schilderung der verschiedenen Theodicee-Versuche des 18. Jahrhunderts, nebst den Reflexen, welche dieses Problem z. B. bei Voltaire, Goethe (dem Jungen), Wieland, Rousseau, dem jungen Schiller gefunden hat – dies wollten wir. Wir wollten eine umfassende historische Monographie, erfüllt von kritischem Geist.
Eine solche Arbeit ist nicht eingelaufen, also können wir – so meine ich in unmaßgeblicher Weise – den I. Preis überhaupt nicht vertheilen.
Wohl aber können wir den 2. Preis zweimal geben, und dazu noch Remunerationen hinzufügen (wie es in Nr 10 der Bedingungen vorgesehen ist) und dabei kann ja die Arbeit Nr II wegen ihrer Vorzüge, welche Sie rühmen, vorangestellt werden.
Entschuldigen Sie, verehrter Herr College, | nicht blos meine Ausführlichkeit, sondern auch überhaupt, daß ich es gewagt habe, mich in die Angelegenheit zu mischen. Ich habe dabei vielleicht die mir gesetzten Schranken überschritten, aber vielleicht halten Sie dies meinem noch immer lebhaften Temperament zu Gute, und vergeben mir meinen Übergriff, zu dem ich nur den Muth gefunden habe, weil ich doch sowol die Intention des Preisrichters als die Meinung des Verwaltungsausschusses der Kantgesellschaft, die das Preisausschreiben gemacht hat (außer mir: Ebbinghaus, Gerhard, Stammler) am besten kenne.
Also nochmals Vergebung, sowie beste Empfehlungen an Herrn Coll[egen] Ziegler, dem ich dies Schreiben gütigst mitzutheilen bitte.
Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Preisurtheil ] vgl. die endgültige Fassung: Zweite Preisaufgabe der Kantgesellschaft. Walter Simon-Preisaufgabe […]. Bericht der Preisrichterkommission [in der endgültigen Zusammensetzung: Theobald Ziegler, Paul Natorp, Paul Menzer]. In: Kant-Studien 14 (1909), S. 321: Als Verfasser der Arbeit No. 7, welche den ersten Preis erhalten hat, ergab sich: Dr. Joseph Kremer in Mahrenberg in Steiermark. Verfasser der Arbeit No. 6, welche einen ersten Accessitpreis erhalten hat, ist: Cand. theol. Otto Lempp in Stuttgart. Verfasser der Arbeit No. 5, welche den dritten Preis erhalten hat, ist: Dr. Richard Wegener in Halensee-Berlin.2↑Arbeit Nr II ] die ursprüngliche Reihenfolge wurde seitdem vertauscht, vgl. Vaihinger an Natorp vom 18.12.1908 (sowie vom 6.4.1909) mit dem Bericht der Preisrichterkommission (s. o.), die neue Reihenfolge ist: Nr. 1 mit Motto „Kannst du nicht…“, Nr. 2 Motto „Alles Höchste…“, Nr. 3 Motto „Das schönste Glück…“, Nr. 4 Motto „Unter einer Theodicee…“, Nr. 5 Motto „Principibus…“, Nr. 6 Motto „Οἴδαμενὅε…“, Nr. 7 Motto „Θεὸς ἀυαίτιος…“ Die an alter Stelle Nr. 2 stehende Arbeit hat somit tatsächlich den ersten Preis davongetragen.▲