Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Paul Natorp, Halle, 22.1.1909, 4 S., hs., Briefkopf KANTGESELLSCHAFT. Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15. | GESCHÄFTSFÜHRER: PROF. DR. H. VAIHINGER, Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1098
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1098
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Vaihinger an Paul Natorp, Halle, 22.1.1909, 4 S., hs., Briefkopf KANTGESELLSCHAFT. Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15. | GESCHÄFTSFÜHRER: PROF. DR. H. VAIHINGER, Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1098
22.I.1909
Verehrter Herr College!
Mein Befinden in diesem Winter ist meistens so wenig zufriedenstellend, daß ich in der Correspondenz sehr beschränkt und daher sehr im Rückstand bin: so kann ich auch erst heute den Brief an Cohen schreiben, dessen Abschrift[a] ich Ihnen beilege[1]: damit wird sein empfindliches Gemüt ja nun wohl beruhigt sein – jedenfalls ist für mich dieses komische Intermezzo[2] erledigt, das der Gießener Israelit aufgespielt hat. – –
Menzer hat 5 Arbeiten jetzt erhalten und ist auch schon fast mit seiner Durchsicht fertig: | so ist ja zu hoffen, daß die Sache[3] rechtzeitig erledigt wird[b]. Wir sind in der Kantgesellschaft Ihnen recht verbunden, daß Sie die Angelegenheit so gefördert haben trotz des ungeheuren Umfanges der Abhandlungen.
Die Angelegenheit der Doctorprüfung[4] steht hier jetzt nicht auf der Tagesordnung – ich werde jedoch versuchen, Menzer in dieser Hinsicht rechtzeitig zu orientiren, ehe die Gefahr herannaht.
Daß Schwarz[5] gut einschlägt, ist sehr erfreulich. Aber das Schicksal der vielen Privatdocenten und Habilitanden macht auch mir Sorgen.
Sehr bedauerlich ist, daß in Königsberg jetzt lauter | Leute sind, welche für Kant gar kein Verständniß haben. Ich habe das Ministerium rechtzeitig und mehrfach aufmerksam gemacht[6], aber die Vorschläge der Fakultät waren teilweise sonderbar.
In Königsberg bestehen 2 große Stipendien für Arbeiten über Kant (der Kapitalwerth beträgt weit über 30,000 M), faßt nie laufen Arbeiten ein, weil die Docenten keine Anregung geben! Es ist geradezu ein Skandal, daß in Königsberg diese Verhältnisse sind.
Mit verbindlichem Gruß Ihr ergebener
H. Vaihinger. |
P. S.
Unsere Stammlersache[7] geht gut vorwärts, obgleich ich wegen meines Befindens sie nicht immer so fördern konnte, wie ich wollte.
Kommentar zum Textbefund
a↑Abschrift ] mit Blaustift unterstrichen, danach Fußnotenzeichen und -text mit Bleistift: Rücksendung nicht nötig.Kommentar der Herausgeber
2↑komische Intermezzo ] vgl. Cohen an Vaihinger vom 9.10.1895 sowie Vaihinger: Erwiderung auf einen Angriff auf die Kantstudien. In: Kant-Studien 13 (1908), S. 507: In dem „Frankfurter Israelitischen Familienblatt“ in der Nummer [47] vom 4. Dez. 1908 findet sich ein Artikel von Maxime Le Maître-Giessen: „Jüdische Professoren. Ein Beitrag zur jüdischen Martyrologie.“ In diesem Artikel, der auch sonst sehr viele Uebertreibungen enthält, heisst es u. A.: „Vaihinger in Halle gibt seit Jahren die „Kantstudien“ heraus. In diesen Kantstudien werden alle Gelehrten und Philosophen, die zur Kantischen Philosophie irgend welches Verhältnis haben, behandelt — der Nestor der Kantischen Philosophie in Deutschland, Hermann Cohen, wird systematisch totgeschwiegen.“ Der Verfasser dieser Bemerkung kann unmöglich die „Kantstudien“ jemals selbst in den Händen gehabt haben; jene Behauptung widerspricht vollständig den Tatsachen. Diese Tatsachen lassen sich um so leichter konstatieren, als jeder der bis jetzt erschienenen 13 Bände der „Kantstudien“ ein sorgfältiges „Personenregister“ sowie ein vollständiges „Verzeichnis der besprochenen Novitäten“ enthält. In keinem der 13 Bände fehlt der Name Cohen, in einzelnen ist er sogar sehr oft genannt, so sogleich in Bd. I 15 mal, in Bd. IV 11 mal, in Bd. XI 15 mal, in Bd. XII 11 mal, in Bd. XIII 8 mal; der VIII. Bd. wird eröffnet mit einer 29 Seiten langen Abhandlung über: „Cohen’s Logik der reinen Erkenntnis“ von einem ihm nahe stehenden Gelehrten, Professor Dr. Staudinger in Darmstadt. Durch diese Tatsachen wird die oben angeführte Behauptung von Maxime Le Maître als eine völlig irrige widerlegt. Höchstens könnte man sich darüber wundern, dass unter den auf dem Umschlag der Kantstudien aufgezählten hauptsächlichsten „Mitwirkenden“: (Adickes, Boutroux, Caird, Creighton, Dilthey, Erdmann, Eucken, K. Fischer, Heinze, Reicke, Riehl, Windelband) der Name Cohen’s fehlt. Aber als ich im Herbst 1895 die „Kantstudien“ ins Leben rief, habe ich Cohen aufgefordert, sich an denselben zu beteiligen und zu erlauben, dass ich seinen Namen den eben genannten Namen hinzufüge. Ich erhielt folgende Antwort: Berlin N., Invalidenstr. 18 I, d. 9.10.95. Hochgeehrter Herr Kollege! Ihr Prospekt mit Ihrem freundlichen Begleitschreiben sind mir nach manchen Wanderungen durch die Schweiz endlich zugegangen und haben mir Freude gemacht. Ich danke Ihnen sehr für die gütigen Worte der Anerkennung, welche Sie mir bei diesem Anlass aussprechen, und mit denen Sie meinem Arbeitergemüt sehr wohl getan haben, umsomehr, als ich in dem ganzen Vierteljahrhundert, in dem ich nun in der bestimmten Richtung arbeite, durch herzliche Anerkennung nicht verwöhnt worden bin. Sie müssen mir daher verzeihen, dass ich jetzt, nachdem ich die ganze lange Zeit einsam, und nur von wenigen Anhängern begleitet, meinen Weg gegangen bin, mich nicht mehr entschliessen kann, Ihrer freundlichen Aufforderung, der ich bei anderen Lebenserfahrungen gern gefolgt wäre, anders als mit aufrichtigem Danke zu entsprechen. Wenn ich einmal etwas fertig bringen kann, was ich Ihnen anbieten darf, so will ich es gern tun und der Zeitschrift selbst in jedem Sinne das beste Gedeihen wünschen. Aber für die Mitwirkung bei der Redaktion kann ich mich nicht verantwortlich machen. Mit nochmaligem Danke und kollegialem Grusse Ihr [ihr] sehr ergebener H. Cohen. Leider hat Cohen den von mir begründeten und seit einigen Jahren gemeinschaftlich mit Privatdozent [Privatodozent] Dr. Bauch hier – der übrigens auch längst seinerseits Herrn Dr. Görland, einen der nächsten Schüler Cohens, zu einer besonderen, bis jetzt freilich noch nicht eingelieferten Abhandlung eigens über das System Cohens aufgefordert hat – herausgegebenen „Kantstudien“ keinen Beitrag gegeben. Auch zu der von mir im Jahre 1904 gegründeten „Kantgesellschaft“ habe ich Cohen leider vergeblich eingeladen. Aber man wird wenigstens zugestehen, dass die Kantstudien das ihrige getan haben, um Cohen gerecht zu werden. Halle a. S., d. 8. Dez. 1908. Prof. Dr. H. Vaihinger.3↑die Sache ] des 2. Preisausschreibens der Kantgesellschaft, vgl. Vaihinger an Natorp vom 18.12.1908.4↑Angelegenheit der Doctorprüfung ] in Marburg stand wiederholt die obligatorische Beteiligung der Philosophie an den Doktorexamen auf der Kippe, vgl. Vaihinger an Natorp vom 26.1.1905.6↑aufmerksam gemacht ] vgl. Vaihinger an Friedrich Theodor Althoff vom 4.7.1907 sowie vom 28.8.1908.▲