Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Friedrich Theodor Althoff, Halle, 4.7.1907, 4 S., hs., Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15., Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Vl. HA, Nl Althoff, F. T., Nr. 991
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- Physical LocationGeheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Vl. HA, Nl Althoff, F. T., Nr. 991
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Vaihinger an Friedrich Theodor Althoff, Halle, 4.7.1907, 4 S., hs., Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 190 | Reichardtstr. 15., Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Vl. HA, Nl Althoff, F. T., Nr. 991
4 Juli 1907
Ew. Excellenz[a]
gestatte ich mir anbei bei ganz ergebenst eine Schrift[1] zu überreichen, welche zwar nicht von mir selbst stammt, zu der ich aber insofern in indirecter Beziehung stehe, als ich neben Professor Fresenius in Wiesbaden und einigen anderen Herren im Kuratorium der Dr Lietz’schen Landerziehungsheime sitze. Ich bin dadurch dazu gekommen, daß ich meinen einzigen gutentwickelten, nicht unbegabten, aber leider etwas neurasthenisch veranlagten Jungen diesen Landerziehungsheimen anvertraut habe.
Mit den in Anlage ergebenst überreichten Ausführungen bin ich zwar nicht überall einverstanden, aber es steht sehr viel Beherzigenswerthes darin über unser höheres Schulwesen, und speciell über die Einrichtung der Prüfungen, und ich möchte annehmen, daß Vieles darin auch den Beifall von Ew. Excellenz finden möchte. |
Da[b] Ew. Excellenz nicht blos für das Universitätswesen, sondern auch für das höhere Schulwesen ein warmes Herz und ein klares Verständnis haben, so dürfte es vielleicht mir erlaubt sein, im Anschluß an die Ausführungen von Dr Lietz (bes[onders] S. 20–25, S. 42 c u. d) auf einen Punkt Ihre specielle Aufmerksamkeit zu lenken, dessen[c] Reformbedürftigkeit nicht blos mir, sondern auch vielen einsichtigen Lehrern selbst schon lange entgegengetreten ist.
Es ist eine durchaus ungerechte und gänzlich unnötige Härte, daß denjenigen Prüflingen, welche durchgefallen sind, die Wiederholung der ganzen Prüfung auferlegt wird. Der ohnedies durch den ersten Mißerfolg verschüchterte und entmuthigte Prüfling soll das ganze ungeheuer große Gedächtnismaterial noch einmal für eine neue Prüfung parat halten, anstatt sich in demjenigen Fach, in welchem er schwach war, nur vervollkommnen zu können. Er soll riskiren, nun in einem beliebigen anderen Fach Unglück zu haben, und – da doch der Zufall hier leider eine sehr große Rolle spielt – er soll riskiren, also nochmals zu fallen. Das muß die Nerven der | jungen Leute ruiniren, und das vermehrt das große Schulelend, das in vielen – und oft der besten Familien – durch so viele unzweckmäßige Einrichtungen der höheren Schulen geschaffen wird.
Es sind doch bekanntermaßen nicht immer diejenigen Schüler, welche das beste Examen machen, die nachher auch die tüchtigsten sind. Z. B. Linné und Liebig waren in der Schule Nullen, weil sie nicht im Stande waren, den gedächtnismäßigen Schulstoff sich anzueignen; ebenso waren Zola und Hauptmann niemals im Stande, ihr Abiturientenexamen zu machen.
Man beraubt den Staat mancher tüchtigen Kräfte, wenn man die Nerven der jungen Leute ruinirt, und dazu trägt die unzweckmäßige Bestimmung bei, daß ein durchgefallener Abiturient das ganze Examen wiederholen soll.
Es wäre sehr wünschenswerth, wenn diese rigorose Bestimmung fallen würde, wenn ein solcher nur dasjenige Fach, in welchem er schwach war, nachholen darf. Viele schwer gedrückte, sonst treffliche Jungens, und viele schwer bekümmerte Eltern würden erleichtert aufathmen!
Ich werde mir gestatten, ein Exemplar dieser Schrift (in der ich mir erlaubt habe, der Bequemlichkeit halber | die markantesten Stellen auszuzeichnen) Sr. Excellenz dem Herrn Minister zu überreichen. Der Verfasser der Schrift meint S. 45 nicht mit Unrecht, der neue Herr Minister[2] würde durch eine solche Maßregel sich die Herzen Aller gewinnen. Auch dem Herrn Geh. Ob Reg Rat Dr Köpke[3] werde ich ein Exemplar senden. –[d]
Bei dieser Gelegenheit möchte ich bemerken, daß ich dieser Tage aus[e] einer Königsberger Zeitung die Notiz las, daß auch in diesem Jahre der ausgeschriebene Kantpreis nicht vergeben wurden werden konnte, weil keine Arbeit einlief. Im Jahr 1904 zu Kants Todestag stiftete die Stadt Königsberg 10,000 Mark, deren Zinsen ein dortiger Studirender erhalten soll für eine Kantarbeit. Bis jetzt konnte dieser Preis nicht ein einziges Mal vergeben werden, weil keine einzige Arbeit bis jetzt eingelaufen ist. So wenig Interesse[4] ist an der Universität Königsberg für Kant. Außerdem besteht noch eine ältere Stiftung von über 20,000 M zu demselben Zweck – auch dieser Preis konnte seit Jahren nicht vergeben werden, obwol dafür nur eine Rede auf Kant verlangt wird! Seit dem Tode von Rosenkranz (1879) ist das Interesse für Kant an der Universität Königsberg so gut wie ausgestorben.
Ew. Excellenz in dankbarer Verehrung stets ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
a↑Ew. Excellenz ] darüber und darunter Bleistiftnotizen von Althoffs Hd.: An Bauch dass. kurz | Notirt. | A 14/9. | [ - ] unten | Von Schierke Ansichtskarte an Vaihinger mit Gruß u Dank geschickt. A 10/9.Kommentar der Herausgeber
1↑eine Schrift ] vgl. Hermann Lietz: Schulreform und Schulprüfung. In: Das zehnte Jahr im Deutschen Land-Erziehungsheim. Erster Teil 1907/08. Leipzig: Voigtländer 1907, S. 5–45.2↑der neue Herr Minister ] seit Juni 1907 amtierte Ludwig Holle (1855–1909) als preußischer Minister für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (WBIS).3↑Herrn Geh. Ob Reg Rat Dr Köpke ] d. i. der Ministerialbeamte Reinhold Köpke (1839–1915; https://d-nb.info/gnd/116295252 (1.9.2024)).▲