Bibliographic Metadata
- TitleErich Adickes an Vaihinger, Tübingen, 13.5.1906, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 7
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 7
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Erich Adickes an Vaihinger, Tübingen, 13.5.1906, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 7
Tübingen 13/5 06.
Sehr geehrter Herr College!
Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen für Ihren freundlichen Brief vom 4/1[1] und die liebenswürdige Übersendung Ihrer Schrift über „Philosophie in der Staatsprüfung“[2] noch immer nicht gedankt habe. Ich war u. bin sehr überlastet mit Arbeit, teils Collegs (9 St[unden] + 2 St[unden] Übungen), teils u. vor allem der Kantausgabe, da dem Beginn des Drucks sich immer wieder Schwierigkeiten in den Weg stellen. Und vor allem: ich hatte mir vorgenommen, Ihnen den nächsten Brief in Schönschrift zu liefern, u. dazu musste ich erst die nötige Zeit abwarten. Dies müssen Sie jetzt aber doch fliessend lesen können! |
Ihre Schrift hat mich auf das Lebhafteste interessirt, zumal ich doch in Münster[3] in die Examinationsthätigkeit ziemlich tief hineingekommen war. Sie meinen, ich hätte wenig damit zu thun gehabt. Aber wir hatten dort bei einem Stand von c[irka] 600 Mitgliedern der philos[ophischen] Fakultät einen Grossbetrieb in Prüfungssachen, so dass ich in den 2 Jahren nicht weniger als 65[a] Themen zu stellen u. demgemäss auch mündlich in Philos[ophie] u. Pädagog[ik] zu prüfen hatte. Besonders schwierig war die Sache dadurch, dass unter den Fachphilosophen keine Einheitlichkeit zu erzielen war in der Art des Vorgehens; vor allem Kappes[4] stellte skandalös niedrige Anforderungen, auch in Propädeutik. Ihre Forderung der Individualisirung in Thema u. Prüfung ist mir u. meinen Erfahrungen aus der Seele gesprochen. Wenn irgend möglich, besprach ich auch mit den Kandidaten das Thema; aber es war da größte Vorsicht geboten wegen der konfessionellen Verhältnisse[5] u. damit nicht der Anschein erweckt würde, als wollte ich auf das[b] Hören meiner Vorlesungen drängen u. drücken. | Nur weiche ich darin vielleicht von Ihnen ab, dass ich ein gewisses Mass erkenntnistheoretischer Selbstbesinnung von Jedem, bes[onders] auch jedem Naturwissenschaftler verlange: d. h. aber wenigstens eine historische Kenntnis der idealistischen Gedankengänge, Theorien über Seele u. Leib etc. In der Wahl des Themas dagegen schloss auch ich mich nach Möglichkeit an das Fachstudium an, wenn nicht (wie oft aus Furcht vor der Philosophie) ein direkt pädagogisches Thema gewünscht wurde. Ohne Zweifel haben Sie sich ein grosses Verdienst erworben durch Ihre eingehende Behandlung der ganzen Fragen; hoffentlich wirkt sie auch auf das Ministerium ein zur Beibehaltung der Philos[ophie] im Allg[emeinen] Bild[ungs]-Examen.[c]
Die beifolgende 2. Auflage[6] des „Kant contra Haeckel“ bitte ich freundlich entgegenzunehmen.
Was die Stammler-Recension[7] betrifft, so möchte ich doch an den Kantstudien festhalten. Es wird ja eine absolut sachliche Polemik werden, die sich überhaupt gegen die Auffassung der Cohenschen Schule wendet. Als Sie die Kantstudien allein herausgaben, habe ich gleich im 1. Band gegen Sie polemisirt[8], u. das hat der Zeitschrift u. unserem Verhältnis doch nichts geschadet. | Das Gute an den Kantstudien ist, dass sie bisher allen Richtungen Raum gaben. Sollte das unter Bauch anders werden, so müsste ich öffentlich protestiren u. mein Verhältnis lösen. Und das würde mir leid thun, da ich, sobald der Druck der Akademie-[d]Ausgabe beginnt, erhebliche entwicklungsgeschichtliche Arbeiten über Kant zu veröffentlichen beabsichtige. Aber natürlich werde ich mich Stammlers wegen, damit Sie (wie Ihr Verhältnis zur Redaktion jetzt ist) keine Mühewaltung mehr davon haben, seiner Zeit direkt an[e] Dr. Bauch wenden.
Liebmann u. Kronenberg werde ich im September oder August sicher besprechen[9]. Vorher kann ich mit dem besten Willen nicht. Liebmanns Werk schätze ich sehr.
Heinze[10] soll ja leider immer noch sehr krank sein. Es ist ein Jammer, dass nun die Akademieausgabe auch in dieser IV. Abteilung ev[entuell] verwaist.
Soll eigentlich Breslau überhaupt nicht wieder besetzt werden[11]? Ist nicht an Martius[12] gedacht? Ich glaube, er ginge liebend gern wieder in die Grossstadt.
Grüssen Sie Collegen Ebbinghaus bestens von mir. Mit ihm wird ein besseres Auskommen sein, als[f] wie mit Riehl. Was zieht sich das Erscheinen der 2. Aufl[age] seines Kriticismus[13] in die Länge! 1898 stellte er sie schon für das Jahr in Aussicht!
Otto August[g] Schulz (Antiquar in Leipzig) schreibt mir, Sie wüssten von dem Verbleib des in den Kantstudien III 371 erwähnten Entwurfs[14]. Ist dem so?[h] – Können Sie Stadtrat Simon[15] nicht bewegen, die ganzen Reickeschen Kantiana zu kaufen u. einer Bibliothek zu schenken? Ich habe sie nötig für die Ausgabe, u. die Nichte Reickes scheint sie nicht herausgeben zu wollen. – Gute Besserung für Ihre Augen! Mit freundlichem[i] Gr[uss] Ihr ergebenster
Adickes.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑Kappes ] Matthias Kappes (1861–1925), mit dem Adickes 1902 eine persönliche und literarische Fehde begonnen hatte, die, nach Plagiatsvorwürfen und u. a. der Gutachtertätigkeit Vaihingers, am 14.1.1905 nach Erkennung auf ein Dienstvergehen zur Entlassung des ao. Prof. Kappes führte. Vgl. Erich Adickes: Vier Schriften des Herrn Prof. Kappes, auf ihre Herkunft untersucht. 2., um ein Nachwort vermehrter, sonst unveränderter Abdruck. Berlin: Mayer & Müller 1903 (zuerst 1902); Matthias Kappes: Die „Kritische Methode“ des Herrn Prof. Adickes in seinen Untersuchungen der Entstehung meiner Schriften. Münster: Mitsdörffer 1904; Adickes: Anti-Kappes. Eine notgedrungene Entgegnung. Berlin: Mayer & Müller 1904 sowie die Aktenüberlieferung (Personalakte): Kappes, Dr. Matthias 31.01.1861 in Zeltingen an der Mosel. Oberleutnant der Landwehr I., seit 1891 Privatdozent, seit 1896 außerordentlicher Professor an der Philosophischen [und Naturwissenschaftlichen] Fakultät der Akademie, ab 1902 Universität Münster (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76, Vf Lit. K Nr. 44), enthält u. a.: Ernennung zum außerordentlichen Professor der Akademie Münster (1896), Beschuldigung des Plagiats durch Adickes (1903), Stellungnahme von Kappes, Gutachten betreffend die Kontroverse Adickes/Kappes, erstellt von Vaihinger (1903), Eröffnung eines förmlichen Disziplinarverfahrens gegen Kappes (1903), Berichterstattung zum Disziplinarverfahren gegen Kappes (1904), Anschuldigungsschrift (1904) und Urteil vom 14.1.1905 (111 Seiten), Umsetzung der Dienstentlassung Kappes (1905). – Vgl. ferner: Reinold Schmücker: Kappes und Anti-Kappes. Eine Miszelle zur Philosophie des Plagiats. In: Christiane Lahusen/Christoph Markschies (Hg.): Zitat, Paraphrase, Plagiat. Wissenschaft zwischen guter Praxis und Fehlverhalten. Frankfurt a. M.: Campus 2015, S. 163–180. In Degener: Wer ist’s? 1912 heißt es beruhend auf Selbstauskünften auf S. 764 über Matthias Kappes, an Stelle einer Vita (!): Schied 05 aus d. Lehrkörper d. Univ Münster, wo er M. der wissensch. Prüfgs.-Komm. u. Gründ. i. Vorst. d. phil. Apparats war, aus.5↑konfessionellen Verhältnisse ] Adickes stammte aus streng pietistischem Elternhaus, die Universität Münster wurde 1902 aus der katholischen Akademie neu begründet.6↑2. Auflage ] vgl. Adickes: Kant contra Haeckel. Für den Entwicklungsgedanken, gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus. 2., verbesserte u. erweiterte Aufl. Berlin: Reuter & Reichard 1906.7↑Stammler-Recension ] von Adickes ist keine Rezension eines Werkes von Rudolf Stammler nachgewiesen, vgl. Adickes: Verzeichnis meiner Schriften und Aufsätze. In: Die Deutsche Philosophie in Selbstdarstellungen Bd. 2, 1921, S. 29–30 sowie Werner Stark: Bibliographie der Veröffentlichungen von Erich Adickes. In: Kant-Studien 75 (1984), S. 365–374.8↑im 1. Band gegen Sie polemisirt ] vgl. Adickes: Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung und die beiden Pole seines Systems. In: Kant-Studien 1 (1896/1897), S. 9–59 u. 161–196.9↑sicher besprechen ] im fraglichen Zeitraum sind keine Rezensionen eines Werkes von Otto Liebmann oder Moritz Kronenberg von Adickes nachgewiesen, vgl. Adickes: Verzeichnis meiner Schriften und Aufsätze. In: Die Deutsche Philosophie in Selbstdarstellungen Bd. 2, 1921, S. 29–30 sowie Werner Stark: Bibliographie der Veröffentlichungen von Erich Adickes. In: Kant-Studien 75 (1984), S. 365–374. Liebmann mahnte mehrfach eine Besprechung von Adickes über Liebmann: Analysis der Wirklichkeit, 3. Aufl. an, vgl. Liebmann an Vaihinger vom 27.7.1903 u. vom 5.4.1905. – Später erschien: Adickes: Liebmann als Erkenntnistheoretiker. (Untersuchungen zur Theorie der Apriorität, sowie über die Evidenz der geometrischen Axiome). In: Kant-Studien 15 (1910), S. 1–52.10↑Heinze ] Max Heinze (1835–1909), seit 1875 o. Prof. in Leipzig, Herausgeber der Abteilung IV (Vorlesungen) von Kants gesammelten Schriften (Akademie-Ausgabe; BEdPh).11↑nicht wieder besetzt werden ] nach dem Weggang von Hermann Ebbinghaus nach Halle, vgl. Adickes an Vaihinger vom 31.12.1901.13↑seines Kriticismus ] vgl. Alois Riehl: Der philosophische Kriticismus. Geschichte und System. 2., neu verfasste Aufl. Leipzig: Engelmann 1908 (Geschichte des philosophischen Kritizismus Bd. 1); Die sinnlichen und logischen Grundlagen der Erkenntnis. Mit einem Geleitwort von Eduard Spranger und Hans Heyse. 2., veränderte Aufl. Leipzig: Kröner 1925 (Geschichte des philosophischen Kritizismus Bd. 2).14↑Kantstudien III 371 erwähnten Entwurfs ] vgl. Vaihinger: Anfrage, die Buck’schen Kantreliquien betreffend. In: Kant-Studien 3 (1899), S. 371: In Band 16 der „Preussischen Jahrbücher“ (1865), S. 495–497 berichtete O. Liebmann von einem kleinen Packet mit Schriftstücken von und an Kant. Liebmann bringt a. a. O. zum Abdruck: 1. ein Blatt, auf dem Kant allerlei Gedanken über Todesfurcht, Sterbenmüssen, hohes Alter u. s. w. äussert, 2. einen Brief von v. Zedlitz an Kant vom 1. August 1778, geschrieben aus Anlass der Übersendung der physischen Geographie. Nach brieflichen Mitteilungen Liebmanns an Reicke war in dem Packet noch u. a. ein Brief des Ministers v. Fürst an Kant vom 4. November 1765 und ein weiterer Brief v. Zedlitz’ vom 23. Mai 1783 enthalten. Das Packet war damals (1865) im Besitz einer Frau Direktor Buck, an die es durch Erbschaft gekommen war. Wo befindet es, bezw. sein vielleicht verstreuter Inhalt sich jetzt? – Oberbibliothekar a. D. Dr. R. Reicke in Königsberg i. Pr., von der Berliner Akademie mit der Herausgabe der Kantkorrespondenz betraut, sucht bisher vergeblich nach den beiden erwähnten Briefen. Vielleicht enthält das Packet noch sonstiges schätzbares Material für die von der Akademie in Angriff genommene Ausgabe der Werke Kants. | Kantautographen. In dem vor kurzem erschienenen Autographen-Katalog Nr. XXV, 1899 von Otto August Schulz in Leipzig (Thalstr. 2) sind unter Nr. 261–63 folgende Kantautographen angeboten […].▲