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- TitleHouston Stewart Chamberlain an Vaihinger, Wien, 13.12.1902, 4 S., hs., Briefkopf VI. Blümelgasse 1. | Wien, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 5 a, Nr. 3
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 5 a, Nr. 3
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Houston Stewart Chamberlain an Vaihinger, Wien, 13.12.1902, 4 S., hs., Briefkopf VI. Blümelgasse 1. | Wien, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 5 a, Nr. 3
13/12/2
Sehr geehrter Herr Professor
Mit bestem Dank bestätige ich den Empfang Ihres Briefes[1] vom 9. d[es] M[onats], sowie der begleitenden Sendung. Der Artikel von Leclère hatte mich schon in den Kant-Studien[a] lebhaft interssirt u. ich habe gute Verwendung für den S[onder-]A[bdruck]. Für Ihre fr[eundliche] Berücksichtigung meines Versuches[2], ein weiteres Publikum für Kant zu gewinnen, ebenfalls verbindlichen Dank. |
Sehr bedauert habe ich, von der über die Kant-Studien[b] hereingebrochenen[c] finanziellen Krise[3] zu hören. Denn diese Zeitschrift ist entschieden sehr nützlich. Dass zwischen Trebertrocknen[4] u. Erkenntnisskritik einmal Wechselwirkung entstehen würde, hätte sich auch Niemand träumen lassen.
Wie schwer es ist Geld zu kriegen, werden Sie ebenso genau wie ich aus Erfahrung wissen – fast so schwer wie wirklich gute | Gedanken. Ich werde aber im Laufe der nächsten Wochen nach verschiedenen Richtungen die Fühler ausstrecken, – ohne grosse Hoffnung auf Erfolg, doch zugleich nicht so pessimistisch, dass es die Thatkraft lähmen könnte.
Wohl habe ich verschiedene sehr reiche Freunde zu Bekannten, die zugleich Mäcene sind; es fragt sich aber, ob das Interesse auch für Kant geweckt werden kann. So ist z. B. der Millionär[5] der soeben 10.000 Mark für die Verbreitung | meiner Grundlagen gestiftet hat, trotz seiner Begeisterung für mein Werk ein ausgesprochener Feind aller Metaphysik u. speciell Kant’s – den er natürlich garnicht kennt.
Jedenfalls werde ich sofort Schritte unternehmen u. werde Ihnen dann melden ob irgendwo sich eine Aussicht aufthut oder ob ich nur auf taube Ohren gestossen bin.
Hochachtungsvoll u. ergeben
Houston Stewart Chamberlain
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Berücksichtigung meines Versuches ] vgl. Vaihinger: Houston Stewart Chamberlain – ein Jünger Kants. In: Kant-Studien 7 (1902), S. 438: Der Vollständigkeit halber sei hier noch hingewiesen auf einen vortrefflichen Aufsatz Chamberlains in der „Neuen deutschen Rundschau“ vom Juni 1895 (VI, 6) „Büchners Sturz“: daselbst trat Chamberlain energisch dem bekannten Materialistenführer Büchner entgegen, welcher in den letzten Jahren seiner schriftstellerischen Thätigkeit bekanntlich jede Gelegenheit ergriff, auf Kant loszuziehen, ohne ihn zu verstehen, aus Ärger darüber, dass die Erneuerung der Kantischen Philosophie, speziell durch F. A. Lange dem Materialismus das Wasser abgegraben hatte. Chamberlain weist in dem genannten Aufsatz sehr geschickt und zugleich mit weitem Blicke den materialistischen Dogmatismus Büchners mit Kantischen Argumenten zurück. Als Kantianer bekannte sich Chamberlain auch in einem Aufsatz: „Schiller als Lehrer im Ideal“, über den die KSt. VI, 327 f. schon berichtet haben. Ganz besonders sympathisch berührt es, dass Chamberlain, mehr als man das gewöhnlich thut, die vorbildliche Persönlichkeit Kants in den Vordergrund stellt. Er hat dies neuerdings wieder gethan in einem kleinen Aufsatz in der „Täglichen Rundschau“ vom 14. März 1902 (No. 62). […] Aus diesem Aufsatz führe ich zum Schluss noch einige markante Stellen an […].4↑Trebertrocknen ] so wörtlich; Anspielung im Sinne von Philister o. ä. auf Treber: spelzige Rückstände des Malzes beim Brauen von Bier.5↑der Millionär ] August Ludowici, vgl. Chamberlain an Vaihinger vom 9.2.1916. – Chamberlain urteilte im Übrigen nicht unbedingt günstig über Vaihingers Bemühungen, vgl. Chamberlain an August Ludowici vom 20.2.1904: Ich lege Ihnen einen Aufruf des Professor Vaihinger [zur Gründung der Kantgesellschaft] bei; er hat mich gebeten, ihn unter meinen Bekannten zu verbreiten. Ob diese Herren wirklich sehr viel für die Kenntnis Kants beitragen, kann ich nicht beurteilen; doch die Absicht ist eine gute, und derartige Unternehmungen ermöglichen es, daß hier und da ein junger Gelehrter zu Worte kommt, der sonst schwer durchdränge. Insoferne kann man es wohl der Beachtung Wohlgesinnter empfehlen; sowie an Basil Hall Chamberlain vom 21.2.1904: Und nun diese Lektüre! Dieses fürchterliche Professorendeutsch und dieses verständnislose Herumquälen um Kant in zehntausend Subtilitäten. Im ganzen ist doch Hermann Cohen – wie mir scheint – der bedeutendste Ausleger; nicht etwa, daß er immer recht hätte; er konstruiert sich manches gar rabulistisch hinein, und ich habe viele Seiten viermal hintereinander lesen müssen, ehe ich einen Schimmer bekam, worauf der gute Mann hinauswollte. Doch der große Ernst und die unglaublich genaue Kenntnis der Schriften Kants ist bei ihm sehr wohltuend. Sehr gut und empfehlenswert ist auch das Werk von Hagerström, „Kants Ethik“, – namentlich der erste Teil, in welchem er die allgemeine Erkenntnistheorie behandelt. Aber alles übrige, namentlich der vielgenannte Kommentar von Vaihinger, der in zwei großen Bänden von zusammen 1000 Seiten erst bis zu § 8 der „Reinen Vernunft“ gelangt ist – also 73 Seiten von den 880 des Originals behandelt hat – ist wohl eines der entsetzlichsten Produkte deutscher Gelehrtenliteratur. Wenn die Sache so weitergeht, wird – so ist berechnet worden – der Kommentar in zweihundert Jahren beendet sein; inzwischen wird aber natürlich ein Kommentar des Kommentars höchst notwendig geworden sein. Traurige Dinge; reden wir nicht davon! (zitiert nach Chamberlain: Briefe 1882–1924 und Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II. Bd. 1. München: Bruckmann 1928, S. 121 u. 122).▲