Bibliographic Metadata
- TitleGerardus Johannes Petrus Josephus Bolland an Vaihinger, Leiden, 15.1.1897, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 e, Nr. 1
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 e, Nr. 1
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Gerardus Johannes Petrus Josephus Bolland an Vaihinger, Leiden, 15.1.1897, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 e, Nr. 1
Leiden 15 Jan[uar] 1897.
Verehrter Herr College,
die Kürze meines postkartlichen Ausdrucks[1] hat, wie es scheint, ein völliges Missverständnis meiner Meinung[2] in Ihnen veranlasst. Herr Windelband hat in seinen Präludien die Hartmann’sche Schriftstellerei „eine ihr Unwesen treibende Popularphilosophie“[3] genannt, obwol er anderswo z. B. eingesteht, alle Religion sei in einem Erlösungsbedürfnis begründet[4]. (Gesch[ichte] d[er] n[eueren] Ph[ilosophie] I 111.) Wenn sich nun derselbe Herr wegen seines verschämten Mysticismus in Ihrem Kantcommentar Worte wie „mystischer Nebel“[5] muss gefallen lassen, so finde ich, dass dieser vornehmer fachgelehrter Verächter E. v. Hartmanns für seine unanständigen Schmähungen den richtigen Lohn bekommt, obgleich an Ihnen selbst wiederum der Passus zu rügen ist. In Bezug auf E. v. H. verhalten sich die deutschen Fachgelehrten nahezu alle wie sie nicht sollten; überall erblicke ich[a] Hartmann’sche Einflüsse ohne ausgesprochene Anerkennung, – z. B. bei Eucken, „Grundbegriffe“[6] 248, und wenn man in den „Kriticismus“ so | etwas wie ein allumfassendes Gesammtbewusstsein (!) aufzunehmen sich genötigt sieht, so ist für mich ein solcher verspäteter Fichteanismus in Wirklichkeit nichts als eine in den Anfängen stecken bleibende Anerkennung der Wahrheit, dass von Kant der Weg folgerichtig zu E. v. H. führt. Sie selbst sind in Ihrer Weise ein Beispiel dieser Wahrheit, mag nun im Uebrigen die Phil[osophie] des Unbew[ussten][7] so richtig oder unrichtig sein wie Sie wollen; wenn der Verfasser der Schrift[8] über H[artmann] D[ühring] u[nd] L[ange] nach eingehendem Studium der älteren Kantliteratur dem H. jetzt näher steht als dem L., so ändert die Existenz jener älteren Kantliteratur gar nichts an der Thatsache, dass der jüngeren Kantliteratur gegenüber der H. von Anfang an im Rechte gewesen ist. Indem Sie das Eingeständnis dieser Thatsache umgehen wollen[b] und mir antworten[9], das Richtige an den Hartmann’schen Behauptungen sei nicht neu, ist[c] eben der Verfasser der Schrift über H. D. u. L. als Verfasser des Kantcommentars was ich ihn genannt habe: ein Hartmannianer wider Willen. So hat auch Lange den Schopenhauer verleugnet, und wollte Letzterer nichts von Fichte und Schelling gelernt haben; nichtsdestoweniger weiß die Nachwelt, wie es um die betreffenden Ge|dankenfiliationen steht.
In Bezug auf den „mystischen Nebel“ erlaube ich mir noch die Bemerkung, dass wir, wenn die Denknotwendigkeit auf so etwas hinweist, dies einfach und ohne Schmähworte eingestehen sollen; dafür sind wir Wahrheitssucher von Gewerbe. Zwar giebt es in Philosophicis Modesachen, so gut wie anderswo, und ist der „Mysticismus“ noch nicht gerade wiederum an der Reihe; es thut mir aber leid, dass ich auf einmal II 410[10] auch bei Ihnen wieder die schöne großartige Unparteilichkeit vermissen muss, in die Sie sich sonst mit Ihrem Commentar hineingearbeitet hatten. Πρὣτον μὲν ἀλήϑεια[11]: ob Nebel oder nicht, Sie haben einfach zu statuieren, in welche Richtung der spekulative Zug gravitirt!
Ich für mich denke hier an Hegels Encykl[opädie] § 48, und bin der Meinung, dass wir in Verstandessachen nicht können was wir müssen, so wenig wie wir in sittlichen Angelegenheiten können was wir sollen, dass E. v. H. mit anderen Worten eben so bestimmt Recht hat mit seiner Behauptung, der transscendentale Realismus sei unentbehrlich, wie er noch zu beweisen hat, dass derselbe | vollziehbar ist.
Ihre Kantstudien, verdienter Herr College, werde ich nach Leiden kommen lassen; ich hoffe nur, dass die Fortsetzung Ihres Commentars[12] nicht zu lange auf sich warten lassen wird. Aus den zwei bereits erschienenen Bänden habe ich außerordentlich viel gelernt. – Sollten Sie Ihrerseits meinen Standpunkt genauer zu kennen wünschen, so finden Sie denselben dargelegt in meinen Abhandlungen über „het Wereldraadsel“, ein Buch, welches Nov[ember] 1896 bei Adriani in Leiden erschienen ist. In demselben finden Sie auch meine Antrittsrede über „Verandering en Tijd“[13], welche ich am 19en Sept[ember] 1896 ausgesprochen habe. Seien Sie im Uebrigen hochachtungsvoll gegrüßt von
G. J. P. J. Bolland
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑postkartlichen Ausdrucks ] eine Postkarte Bollands an Vaihinger ist nicht überliefert, vgl. die Antwort von Vaihinger an Bolland vom 13.1.1897.3↑„eine ihr Unwesen treibende Popularphilosophie“ ] bei Wilhelm Windelband: Ueber Denken und Nachdenken. (Eine akademische Antrittsrede. 1877). In ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie. Freiburg i. B./Tübingen: Mohr (Siebeck) 1884, heißt es S. 192: Treibt doch mit diesem Worte [das Unbewusste] eine Popularphilosophie unserer Tage ihr Unwesen […].4↑alle Religion sei in einem Erlösungsbedürfnis begründet ] bei Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. 1. Bd.: Von der Renaissance bis Kant. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1878 heißt es S. 111 innerhalb eines Referates über Jacob Böhme: Alle Religion aber ist pessimistisch, ihr tiefster Grund ist Erlösungsbedürfniss, und sie setzt deshalb die Vorstellung von der Verkehrtheit des Zustandes voraus, aus dem die Erlösung ersehnt wird.5↑„mystischer Nebel“ ] bei Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben. Bd. 2. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Union/Deutsche Verlagsgesellschaft 1892 heißt es S. 410: K. Fischer sucht nun eingehend nachzuweisen, dass „zwischen Kants naturgeschichtlicher Weltansicht und seiner Vernunftkritik kein Widerstreit“ bestehe. […] Will man also jenen circulus vitiosus in welchen nach Fischer nur Schopenhauer, nicht Kant verfallen sei, vom Standpunkt des Letzteren aus selbst vermeiden, so muss man mit Windelband in seiner Gesch. d. n. Philos. jene Formen nicht dem individuellen, sondern einem „überindividuellen“ Ich zuschreiben [folgt interner Seitenverweis]; macht man aber diese Wendung, so kommt man ins Spinozistische Fahrwasser und wird dem Fichte’schen Nebel zugetrieben.6↑„Grundbegriffe“ ] bei Rudolf Eucken: Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart. Leipzig: Veit & Comp. 1878, S. 248 (Kapitel Optimismus – Pessimismus) heißt es: Wird aber einmal der Geist als leidend betrachtet und nicht das Handeln, sondern das Empfinden als über unser Leben bestimmend angesehen, so ist freilich der Pessimismus einzig berechtigt, und es ist verkehrt, dann noch mit ihm über kleine Dinge zu markten. Denn dass in dem Mechanismus der Empfindungen Unlust und Schmerz leicht den Sieg über die Lust davontragen, und das Leben so betrachtet sich als ein stetes Schwanken zwischen Langeweile und Schmerz herausstellt, das ist von Alters her zur Genüge dargethan. Nur wird man auch diese Thatsache anders, ja geradezu entgegengesetzt deuten können, als es im landläufigen Pessimismus geschieht. Ueber die Kleinlichkeit der dieser Form zu Grunde liegenden Voraussetzungen aber darf kein Wort verloren werden. In Eucken: Die Grundbegriffe der Gegenwart, Historisch und kritisch entwickelt. 2., völlig umgearbeitete Aufl. Leipzig: Veit & Comp. fällt die S. 248 in das Kapitel Idealismus – Realismus – Naturalismus, diese Ausgabe ist hier folglich nicht gemeint.7↑Phil. des Unbew. ] vgl. Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker 1869. Zahlreiche Auflagen.8↑Schrift ] vgl. Vaihinger: Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der deutschen Philosophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritischer Essay. Iserlohn: J. Baedeker 1876.11↑Πρὣτον μὲν ἀλήϑεια ] gr. an erster Stelle die Wahrheit, vgl. Platon, Politeia 490a; auch Motto von Bollands Leidener Antrittsrede vom 19.9.1896 (s. u.).12↑Fortsetzung Ihres Commentars ] Vaihingers auf 4 oder 5 Bde. angelegtes Werk ist nicht über die ersten beiden Bde. hinausgekommen (1881/1882 u. 1892; vgl. für die verschiedenen Angaben zur Anlage auf 4 oder 5 Bde. Vaihinger: Selbstanzeige: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zum hundertjährigen Jubiläum derselben herausgegeben. Band I. Stuttgart, W. Spaemann, 1881. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 5 (1881), S. 505–506, hier S. 506; sowie Vaihingers Gutachten für Althoff, abgedruckt in Reinhardt Pester: Hermann Lotze Briefe und Dokumente. Mit einem Vorwort hg. v. E. W. Orth. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003 (Studien und Materialien zum Neukantianismus Bd. 20), S. 723–734, hier S. 729).13↑Antrittsrede über „Verandering en Tijd“ ] vgl. Bolland: Verandering en Tijd. Intreerede, bij de aanvaarding van het hoogelaarsambt aan’s Rijks Universiteit te Leiden den 19en September 1896 uitgesproken. In ders.: Het Wereldraadsel. Wijsgeerige Verhandelingen. Leiden: Adriani 1896, S. 228–277.▲