Bibliographic Metadata
- TitlePaul Natorp an Vaihinger, Marburg, 11.12.1895, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 2
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 2
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Paul Natorp an Vaihinger, Marburg, 11.12.1895, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 1 b, Nr. 2
Marburg 11. Dez[ember] 1895
Verehrter Herr Kollege!
Verzeihen Sie, daß ich, in diesen Tagen von Geschäften überhäuft, erst heute zur Beantwortung Ihres freundlichen Schreibens[1] Zeit finde.
Dem Grundgedanken des Prospektes[2] bin ich, wie Sie voraus annehmen durften, durchaus geneigt. Z. B. bin ich an u. für sich gegen die Trennung der systematischen u. historischen Arbeit, wie sie z. B. durch die Teilung unsres „Archivs“[3] wenigstens ausgedrückt scheinen kann. In der Durchführung zeigt sich die Scheidung in der That schon jetzt schwierig, wie ich vorausgesehen. –
Andererseits kann man sich freilich nicht verhehlen, daß die Vermehrung der philosophischen Fachzeitschriften deren eigentlichen Zweck, die Concentration der betreffenden[a] Litteratur, nicht fördert. Doch ist ja die philosophische Produktion bei uns u. noch mehr im Ausland immer noch eher im Steigen als im Sinken, und insbesondere das Kantstudium keineswegs eingeschlafen. So wird es an | Beiträgen nicht fehlen.
Was mich selbst betrifft, so ist die speciellere Beschäftigung Kants mir im Laufe der Jahre ferner gerückt[4], ich bin zu sehr mit eigner systematischer Arbeit, sowie mit historischen Forschungen die sich auf andre Perioden der Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] beziehen, beschäftigt, habe auch besondere Vorlesungen über Kants schon längere Zeit nicht mehr gehalten u. habe um so weniger Grund sie wieder aufzunehmen, da außer Cohen nun auch Busse wie Kühnemann diese Seite pflegen. Ich stecke noch in Pädagogik, muß dann für Frommanns (Hauffs) Sammlung[5] Galilei bearbeiten[6], sehne mich auch lange nach einem gewissen Abschluß meiner Platostudien[7], meiner Psychologie[8] u. m[ehr]. Es ist natürlich, daß ich dabei den Zusammenhang mit Kant nie verloren u. zu der alten „räucherigen Schwarte“[9], wie (glaube ich) Schleiermacher einmal im Unmut von der Kr[itik] d[er] r[einen] V[ernunft] gesagt, oft genug greife. Auch ist es ja wohl möglich, daß sich dabei kleinere Nebenarbeiten ergeben, die in das Programm Ihrer Zeitschrift[10] passen. | Doch kann ich zur Zeit nichts versprechen.
Als noch G[eorg] Weiss (Heidelberg) den Verlag der Kirschmannschen Bibl[iothek] und der Monatshefte hatte, verhandelten wir einmal über eine Neuausgabe[11] der Kr[itik] d[er] r[einen] V[ernunft], aus der dann nach dem Verkauf des Verlags an Salinger[12] nichts geworden ist. Ich hatte damals den Gedanken, möglichst alle Kantforscher in der Art an der Sache zu beteiligen, daß jeder für sich das ganze Werk genau durchlese u. jede textlich auffällige Stelle bemerke u. ev[entuell] Änderungsvorschläge mache. Mit solchem Material ließe sich dann vielleicht (ich dachte an einen engern Ausschuß zu diesem Zweck) ein so korrekter Text als denkbar – unter selbstverständlicher Benutzung aller sonstigen Hülfsmittel herstellen. Aber alles desgleichen[b] bes[onders] auch die Notwendigkeit eines terminologischen Wörterbuchs[13] von mindestens der Genauigkeit von Bonitz Ind[ex] Aristot[elicus][14] werden Sie genügsam erwogen haben u. durch Ihre Zeitschrift zu fördern schon längst beschlossen haben. Nur um mein Interesse an der Sache zu bezeigen, wollte ich die Bemerkung, da | sie mir durch Ihren Prospekt wieder in den Sinn kam, nicht unterdrücken.
Und so wünsche ich Ihrem Unternehmen den besten Erfolg, der durch Ihren Namen wie durch die der Mitherausgeber voraus gesichert erscheint.
Mit kollegialem Gruß Ihr
P. Natorp
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑des Prospektes ] vgl. in der Druckfassung Vaihinger: [Prospekt] Kantstudien. Philosophische Zeitschrift unter Mitwirkung von E. Adickes, É. Boutroux, Edw. Caird, C. Cantoni, J. E. Creighton, W. Dilthey, B. Erdmann, K. Fischer, M. Heinze, R. Reicke, A. Riehl, W. Windelband und anderen Fachgenossen herausgegeben von Dr. Hans Vaihinger, o. ö. Professor an der Universität Halle a. S. – z. B. in: Archiv für Geschichte der Philosophie 9 (1896), S. 268–270.3↑Teilung unsres „Archivs“ ] Natorp war 1895–1901 Mitherausgeber der 2. Abteilung, Archiv für systematische Philosophie, der Zeitschrift Archiv für Philosophie (Ludwig Stein). Deren 1. Abteilung widmete sich der Geschichte der Philosophie.5↑Frommanns (Hauffs) Sammlung ] Emil Hauff (†1927), 1886–1919 Inhaber des Stuttgarter Verlages Fr. Frommann (Reinhard Würffel: Lexikon Deutscher Verlage. Berlin: Grotesk 2000, S. 261).6↑Galilei bearbeiten ] in der Verlagsreihe Frommanns Klassiker der Philosophie erschien keine Monographie über Galilei.7↑Platostudien ] vgl. Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig: Dürr 1903; sowie Vaihinger an Natorp vom 25.6.1902.8↑Psychologie ] vgl. Natorp: Allgemeine Psychologie in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen. Marburg: Elwert 1904; sowie ders.: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Bd. 1 [mehr nicht erschienen] Objekt und Methode der Psychologie. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1912.9↑alten „räucherigen Schwarte“ ] vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Berlin: Georg Reimer 1870, S. 83–84: Noch in Landsberg klagt er, „er nage noch immer an der räucherigen Schwarte der Kantschen Philosophie –“ [Fußnote: An Dohna, handschriftlich] damals schon sechsundzwanzig Jahre alt.10↑in das Programm Ihrer Zeitschrift ] vgl. Natorp: Zur Frage der logischen Methode. Mit Beziehung auf Edm. Husserls „Prolegomena zur reinen Logik“. In: Kant-Studien 6 (1901), S. 270–283; ders.: Kant und die Marburger Schule. In: Kant-Studien 17 (1912), S. 193–221; Recht und Sittlichkeit. Ein Beitrag zur kategorialen Begründung der praktischen Philosophie. Mit besonderem Bezug auf Hermann Cohens „Ethik des reinen Willens“ und Rudolf Stammlers „Theorie der Rechtswissenschaft“. In: Kant-Studien 18 (1913), S. 1–79; Bruno Bauchs „Immanuel Kant“ und die Fortbildung des Systems des Kritischen Idealismus. In: Kant-Studien 22 (1918), S. 426–459.11↑Neuausgabe ] fast sämtliche Projekte dieser Art (die Cassirer/Cohensche Gegenausgabe ausgenommen) wurden verlegerisch mit Erscheinen der Berliner Akademie-Ausgabe der Werke Kants, hg. v. Wilhelm Dilthey ab 1900 obsolet, Vaihingers eigene Vorhaben eingeschlossen (vgl. Michael Bernays an Vaihinger vom 1.3.1880).12↑Verkauf des Verlags an Salinger ] vgl. Helmut Holzhey: Ursprung und Einheit. Die Geschichte der „Marburger Schule“ als Auseinandersetzung um die Logik des Denkens. Basel/Stuttgart: Schwabe 1986 (Cohen und Natorp Bd. 1), S. 31, Anm. 124: Die „Philosophischen Monatshefte“ erschienen ab Jg. XXVIII (1892) im Philosophisch-Historischen Verlag von Dr. R. Salinger, Berlin, an den sie im Herbst 1891 übergegangen waren; bereits Jg. XXX (1894), der letzte Band der Zeitschrift, kam aber bei Georg Reimer, Berlin heraus, der schon das „Archiv für Geschichte der Philosophie“ verlegte und ab 1895 auch das neukonzipierte „Archiv für Philosophie“ mit seinen zwei Abteilungen übernahm. Der Verleger Georg Weiss hatte die Zeitschrift Philosophische Monatshefte offenbar nicht kampflos an Richard Salinger abgegeben, es scheint zu einem Gerichtsprozess gekommen zu sein.13↑terminologischen Wörterbuchs ] erst 1930 erschien: Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß. Hg. unter Mitwirkung der Kantgesellschaft v. Rudolf Eisler. Berlin: E. S. Mittler & Sohn/Pan-Verlag.▲