Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Heinrich von Treitschke, Halle, 27.1.1889, 4 S., hs., Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Treitschke, K 9, Nr. 25
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Treitschke, K 9, Nr. 25
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Vaihinger an Heinrich von Treitschke, Halle, 27.1.1889, 4 S., hs., Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Treitschke, K 9, Nr. 25
Halle a/S.
27.I.89[a]
Hochzuverehrender Herr Geheimer Regierungsrath und Professor![b]
Indem ich mir die große Freiheit nehme Ihnen anbei meine Kölner Rede[1] gegen Preyer ganz ergebenst zu überreichen, finde ich mich dazu ermuthigt durch den Umstand, daß Sie, hochverehrter Herr, in Ihrer vielbesprochenen Abhandlung[2] vom Jahre 1883: „Einige Bemerkungen über unser Gymnasialwesen“ dieselbe Position einnehmen, welche ich in meiner Rede zu vertheidigen und zu stärken versucht habe. Ja, indem ich aber | Ihre Abhandlung mehrmals durchlas[c], finde ich zu meiner Freude, daß ich Sie in mehrfacher Hinsicht als Autorität für meine Auffassung[d] hätte anführen können.
Mein Grundgedanke ist: unsere Kultur ist etwas historisch Entstandenes. Ist nun die Aufgabe der höheren Bildung, den jungen Menschen auf die Höhe dieser unserer Kultur voll und ganz zu erheben, so muß er die Entstehungsgeschichte, den Werdegang jener Kultur in sich selbst wiederholen und erleben, und auf diese Weise die Kulturgeschichte in seiner Erziehungsgeschichte recapituliren.
Wie ich im Einzelnen nachweisen konnte, ist dieser Gedanke von den bedeutendsten Geistern Deutschlands aufgestellt worden: einem Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, Hegel, Herbart, Gervinus und vielen Anderen, auch Pestalozzi u. F. A. Wolf. | Auch in Ihrer Abhandlung habe ich nun ähnliche Gedanken finden dürfen:[e] so parallelisiren Sie S. 168 ausdrücklich die Kulturgeschichte der Völker und die Erziehungsgeschichte des Einzelnen; so verlangen Sie 173, daß der Knabe die Heldenperiode der antiken Herren „in handgreiflicher Wirklicheit wiederhole“, und S. 180 u. 185, daß die Jugend im Alterthum „heimisch“ werde. Erst dadurch[f] werde der Mensch sich bewußt, daß er ein „historisches Wesen“ sei (179, 181, 185) erst dadurch sei er im Stande, an der Cultur der Gegenwart theilzunehmen, wenn er die „geschichtlichen Wurzeln“ unserer Kultur kenne.
Diesen Gedanken, daß der heranwachsende Einzelmensch den kulturgeschichtlichen Werdegang der Menschheit in seiner Erziehung wiederholen müsse[g], um auf die volle Höhe der heutigen Kultur gehoben zu werden – diesen Gedanken wollte ich Preyer gegenüber geltend machen. Aber die meisten Naturforscher | haben ja wenig historischen Sinn, bei Preyer fehlt er vollständig, und so hielt ich es für zweckmäßig, an ein naturwissenschaftliches Gesetz anzuknüpfen, durch welches der Gedanke der historischen Entwicklung dem Naturforscher plausibel gemacht werden kann: ja ich stellte mich ganz auf den Standpunkt der Naturwissenschaft, um Preyer auf seinem eigenen Boden zu bekämpfen. Da ich also gegen einen Naturforscher vor Naturforschern redete, musste[h] ich auch selbst als Naturforscher sprechen. Auf diese Weise habe ich versucht, das historische Princip den Naturforschern wieder nahe zu legen, worin ich ja Ihrer Zustimmung sicher sein darf, wenn Sie auch persönlich jenen naturwissenschaftlichen Weg nicht einschlagen wollen.
In dieser Hoffnung und zugleich mit dem Ausdruck tiefer Verehrung Ew. Hochwolgeboren ergebenster
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑meine Kölner Rede ] vgl. Vaihinger: Naturforschung und Schule. Eine Zurückweisung der Angriffe Preyers auf das Gymnasium vom Standpunkte der Entwicklungslehre. Ein Vortrag in der dritten allgemeinen Sitzung der 61. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Köln am 22. September 1888 gehalten. Köln/Leipzig: Albert Ahn 1889; vgl. den Kommentar zu Vaihinger an Friedrich Theodor Althoff vom 20.12.1888.2↑Ihrer vielbesprochenen Abhandlung ] vgl. von Treitschke: Einige Bemerkungen über unser Gymnasialwesen. In: Preußische Jahrbücher 51 (1883), Heft 2, S. 158–190.▲