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- TitleVaihinger an Ernst Haeckel, Halle, 27.12.1888, 4 S., hs., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Haeckel-Haus, EHA Jena, A 16733 (https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_16733)
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Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Haeckel-Haus, EHA Jena, A 16733 (https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_16733) - URN
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Vaihinger an Ernst Haeckel[1], Halle, 27.12.1888, 4 S., hs., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Haeckel-Haus, EHA Jena, A 16733 (https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_16733)
Halle a/S 27.XII.88
Hochzuverehrender Herr Professor!
Ich nehme mir die Freiheit Ihnen anbei ein Exemplar meiner auf der Naturforscherversammlung in Köln gehaltenen Rede[2] ergebenst zu übersenden. Freilich befinde ich mich da in einer eigenthümlichen Lage: ich stehe auf der Einen Seite ganz auf Ihrem Boden, ich könnte sagen auf Ihren Schultern, und leite doch andererseits aus Ihren Principien Folgerungen ab, welche Sie vielleicht gar nicht billigen. Allerdings läßt Ihre von mir | in der ersten Anmerkung (auf S. 25)[a] aus dem Jahre 1877 citirte Stelle[3] hoffen, daß Sie meiner Auffassung[b] nicht ferne stehen; aber Ihre neueren Auffassungen[4] lauten dem Gymnasium so wenig günstig, daß ich kaum hoffen kann, auf den ersten Anlauf hin Ihre Zustimmung zu gewinnen. Die Zunahme der dem Gymnasium abgünstigen[c] Stimmung in den Kreisen der Naturforscher liegt begründet in dem starren Festhalten der Gymnasien an einigen alten Einrichtungen, wie dem lat[einischen] Aufsatz und in der schroffen Ablehnung der berechtigten Forderungen der Naturforscher. | Aus meinen Ausführungen ersehen Sie, daß ich ebenfalls verlange, daß der Naturforschung und ihren Fortschritten Rechnung getragen werden soll (bes[onders] Vorrede VIII ff., S. 21, 45 ff.). Aber auf der anderen Seite halte ich am Gymnasialprincip als solchem fest. Ich leite dasselbe gerade zu aus dem biogenetischen Grundgesetz ab, und da wäre es mir nun ungemein werthvoll zu erfahren[5]: ob Sie
1) mit der S. 4 ff. gegebenen Ausführung im Allgemeinen einverstanden sind, d. h. mit dem Princip, daß die Erziehungsgeschichte des Einzelnen[d] ein Auszug der Stammescivilisation sein soll, |
2) wie Sie sich zu der daraus gezogenen Folgerung stellen, daß eben darum das classische Alterthum einen notwendigen Durchgangspunkt der Erziehung bilden müsse.
Ich glaube kaum, daß Sie jenes Princip ganz abweisen werden; wenn Sie dasselbe aber anerkennen, dann werden Sie meine Folgerung, die Anwendung auf den classischen Unterricht, auch nicht ohne Weiteres zurückweisen.
Sie selbst wissen, welche enorme Wichtigkeit die Gymnasialfrage für[e] unsere ganze Cultur hat. Eine Versöhnung[f] der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften[g], wie ich sie in diesem Punkte anstrebe, wird gewiß in Ihnen keinen unbedingten Gegner finden.
In aufrichtiger Hochachtung Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger.[h]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Vaihinger an Ernst Haeckel ] mit Dank an Dr. Thomas Bach, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Biologisch-Pharmazeutische Fakultät, Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik „Ernst-Haeckel-Haus“.2↑gehaltenen Rede ] vgl. Vaihinger: Naturforschung und Schule. Eine Zurückweisung der Angriffe Preyers auf das Gymnasium vom Standpunkte der Entwicklungslehre. Ein Vortrag in der dritten allgemeinen Sitzung der 61. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Köln am 22. September 1888 gehalten. Köln/Leipzig: Albert Ahn 1889 (https://archive.org/details/bub_gb_Bqc_AAAAYAAJ (20.8.2024)). Vgl. Vaihinger an Ernst Dümmler und an Eduard Zeller vom 20.12.1888; auch an Althoff.3↑citirte Stelle ] vgl. Vaihinger: Naturforschung und Schule (1889), S. 25, Anm. 1: […] Die Naturforscherversammlung hat sich schon mehrfach mit pädagogischen Fragen beschäftigt und hat auch seit einigen Jahren eine eigene „Sektion für naturwissenschaftlichen Unterricht“ eingerichtet; in einer Sitzung dieser Sektion auf der Versammlung in Berlin im Jahre 1886 sprach sich auch Häckel ähnlich wie Preyer aus (siehe „Tageblatt“ der 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin, Berlin, L. Schumacher 1886, S. 333): „Über die allgemeinen Ziele der Unterrichtsreform“. Vorsichtiger und richtiger hatte sich Häckel auf der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu München 1877 geäussert in seinem Vortrage: „Über die heutige Entwicklungslehre im Verhältnisse zur Gesamtwissenschaft“ (siehe Amtlicher Bericht, München, Straub, S. 19; Wiederabgedruckt in den „Populären Vorträgen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre“ (II. Heft, Bonn 1879, S. 112): „Wenn früher die klassische Bildung zu einseitig bevorzugt wurde, so geschieht dies neuerdings nur zu oft mit der exakten Bildung. Beide Übergriffe führt die Entwicklungslehre auf ihr rechtes Mass zurück, indem sie als einendes Band zwischen exakte und klassische, zwischen Natur- und Geisteswissenschaft tritt. Überall lehrt sie den lebendigen Fluss der zusammenhängenden, einheitlichen und ununterbrochenen Entwicklung.“4↑Ihre neueren Auffassungen ] vgl. Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Berlin vom 18.–24. September 1886. Berlin: L. Schumacher 1886, S. 333: Sektion für naturwissenschaftlichen Unterricht. Schlusssitzung, Donnerstag, 23. September. […] 1. Herr Häckel (Jena): Ueber die allgemeinen Ziele der Unterrichtsreform. Als Hauptziel aller Bestrebungen zur Unterrichtsreform stellt der Redner es hin, die Naturwissenschaft zur allgemeinen Grundlage der höheren Bildung zu gestalten, entsprechend der gänzlich veränderten Stellung dieser Wissenschaft in den letzten Dezennien. Die Einheitsschule ist zu verwerfen, da hier nicht die allseitige naturwissenschaftliche Ausbildung der Realgymnasien die Grundlage bilden, sondern die einseitig formalistische Bildung der klassischen Gymnasien das Uebergewicht haben würde. Beide Gymnasien, das reale sowohl wie das klassische, haben derzeit noch grosse Mängel und bedürfen dringend der Reform. Eine Arbeitstheilung ist für beide Gymnasien von Nutzen, anzustreben ist vollständige Gleichberechtigung in der Weise, dass das Maturitätszeugniss beider in gleicher Weise zu allen Fakultätsstudien berechtigt. Redner schlägt vor, einen Antrag vorzubereiten, dass in einer allgemeinen Sitzung der nächstjährigen Naturforscherversammlung ein Vortrag über das Thema der Unterrichtsreform auf die Tagesordnung gesetzt werde, und ferner eine Kommission zu wählen, um eine bezügliche Petition an das Unterrichtsministerium resp. den Landtag vorzubereiten. Mit anschließender Diskussion.▲