Bibliographic Metadata
- TitleCarl du Prel an Vaihinger, Silz (Tirol), 2.8.1888, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 6 p, Nr. 12
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 6 p, Nr. 12
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Carl du Prel an Vaihinger, Silz (Tirol), 2.8.1888, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 6 p, Nr. 12
Silz
Oberinnthal
Tirol 2.VIII.88.
Verehrter Freund![a]
Besten Dank für den 2ten Artikel von B. Erdmann[1][b], den ich nach Erhalt des 1ten, den Sie mir in Aussicht stellen, zurücksenden werde.
Duo si legunt idem, non est idem.[2] Vom mystischen Inhalt der Kant’schen Vorlesungen spricht Erdmann gar nicht, mich aber interessirt gerade nur dieser, weil die induktiv gefundenen Eckpunkte meiner Mystik ganz übereinstimmen mit den Positionen bei Pölitz.
Es ist wohl möglich, daß ich auf diese „Vorlesungen“ erst durch Sie aufmerksam gemacht wurde; ich habe nur e[ine] dunkle Erinnerung an eine früher gefundene Notiz aus e[inem] älteren Werk.
Mein Grundsatz ist, daß man möglichst wenig lesen sollte, weil die zu stark gefütterte Henne nicht etwa[c] mehr Eier legt, sondern gar keine. Zu eigenen Ideen kommt man gar nicht, wenn man nicht in der Aufnahme fremder haushälterisch ist. Leider muß ich gleichwohl schrecklich viel lesen; aber die Kantliteratur kenne ich nur theilweise. Darum entgingen mir die paar Erwähnungen | des Buches von Pölitz, und in so ferne hat Stölzle[3] ganz recht. Ich habe aber auch nur gesagt, daß ich „den meisten Lesern“ etwas Neues mittheilen werde – und das ist gewiß der Fall. Sogar einem B. Erdmann dürfte wenigstens die Übereinstimmung[d] Kant’s mit der modernen Mystik neu sein. Denn wer studirt denn Mystik?
Also Sie haben Pölitz zuerst wieder entdeckt! Ich werde das in der Vorrede mit Bezug auf Commentar I, 22[4] erwähnen.
Alle diejenigen Gelehrten, die sich auf den Streit, ob die „Träume“ oder der Brief an Fräulein[e] Knobloch[f][5] älter ist, überhaupt eingelassen haben, scheinen Pölitz[g] nicht zu kennen; denn dieser macht den Streit gegenstandslos, da (selbst nach Erdmann) die „Vorlesungen“ später fallen, als der Brief und die Träume.
Wenn Sie alle mystischen Thatsachen physiologisch erklären wollen, müssen Sie mindestens ¾ der in meinen Schriften notirten streichen, auch die mehrfachen Fälle von somnambulem zeitlichen Fernsehen, die die „Psych[ologische] Ges[ellschaft]“ in München constatirt hat. Es thut mir überhaupt leid, daß Sie unseren Experimenten nicht beiwohnen konnten. Das Wort Sensualismus brauchen | Sie nicht preiszugeben. Mir ist die ganze Mystik Naturwissenschaft, aber unbekannte. Wenn Sie die „Psych[ologische] Ges[ellschaft]“ nicht für competent halten, so sollten Sie wenigstens die von Professoren geschriebene revue de l’hypnotisme lesen. Übrigens habe ich vor ein paar Tagen eine Idee ausgeführt, wie die Phänomene von ihrer Unberechenbarkeit zu befreien sind, d. h.[h] die Mystik zur Experimentalwissenschaft[6] gemacht werden kann. Ich habe bisher nur 1 Experiment im Sinne obiger Idee angestellt, dieses aber ist gelungen, und wurde dabei Fernsehen constatirt.
Zugeben werden Sie, daß wenn die spiritistischen Phänomene wahr sind, die Lösung des Menschenräthsels gewaltig weiterkommen würde. Daß sie aber wahr sind, davon könnten Sie sich unter günstigen Umständen in einer einzigen Sitzung überzeugen. Als ich in einem Kreise von Bekannten eine Geisterhand in der meinigen hielt, und dann eine ganze Gestalt neben mir auftauchte und sich selber das Gesicht beleuchtete, während das Medium 8 Schritte davon entfernt saß und auf beiden Seiten gehalten war, auch von seinem Platze aus zu mir sprach, war ich überzeugt – und Sie wären es auch gewesen.
Mit besten Grüßen
du Prel
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Duo si legunt idem, non est idem. ] lat. wenn zwei das gleiche lesen, ist es nicht dasselbe;nach dem lat. Sprichwort: duo cum faciunt idem non est idem.4↑Commentar I, 22 ] gemeint ist eine Stellenangabe nach Vaihinger: Commentar zur Kritik der reinen Vernunft Bd. 1 1881/1882 in du Prels Ausgabe nach Pölitz.5↑Frl. Knobloch ] Charlotte Amalie von Knobloch (1740–1804), vgl. Menzer, Paul/Burger, Rose (Hg.): Kant’s Briefwechsel. Bd. 4 Anmerkungen und Register (= Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 13). Berlin/Leipzig: De Gruyter 1922, S. 17; vgl. zur Datierung des gemeinten Briefs ebd., S. 20–21.6↑Mystik zur Experimentalwissenschaft ] vgl. über dieses Projekt Tomas Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus: (Bildwissenschaftliche) Quellen zum Leben und Werk des Carl du Prel, 2006 (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:luen4-opus-110843 (19.8.2024)), S. 92–93.▲