Bibliographic Metadata
- TitleGeorg Gerland an Vaihinger, Straßburg, 3.8.1884, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 c, Nr. 1
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 c, Nr. 1
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Georg Gerland an Vaihinger, Straßburg, 3.8.1884, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 1 c, Nr. 1
Straßb[urg] 3/8 84.
Lieber Herr College,
Was werden Sie von mir denken, daß ich Ihnen erst heute für Ihren Brief[1] danke, der mich so lebhaft erfreute, Ihnen erst heute den Fries[2] schicke, der Ihnen doch so lange versprochen war! Mag mich das Datum meiner Antwort[3] in etwas entschuldigen. Gestern hab ich geschlossen[a] – es war eine mühevolle Semesterzeit – u. gleich heute als am ersten Ferientage schreibe ich Ihnen und bitte zunächst, verzeihen Sie mir mein Säumnis. Es war nicht Bummelei. Ich hatte sehr viel zu tun.[b]
Daß es Ihnen in Halle gefallen würde, habe ich immer gehofft, u. war also nicht überrascht, aber sehr erfreut, als ich es von Ihnen nun bestätigt fand. Der alte | akademische Ton, in dem sich unser einer so wohl fühlt, herrscht in Halle ungleich mehr, als hier. Jetzt am Schluß Ihrer ersten „Campagne“ werden Sie selber nur erst ein richtiges Facit ziehen können; ich bin sehr begierig, wie es ausfällt.[c] Ihre Zuhörerzahl war ja reichlich und hat hoffentlich ausgehalten; und so wünsch ich Ihnen auch für die kommenden Semester das Beste. Sehr begierig bin ich, ob wirklich Windelband nach H[alle] berufen[4] wird. Ich hoff’ es nicht; es wäre mir für Sie leid. Mit großem Interesse hab’ ich neulich die Rez[ension] Gottschicks über Ihren Kant II[5] gelesen; er ist diesmal ja alles Lobes voll.
Von hier ist mancherlei zu berichten, doch werden Sie schon längst au fait sein. So von den heftigen Bewegungen[6] in hies[iger] Studentenschaft u. dem Selbstmord des stud. jur. Hettner. Es ist noch bis jetzt viel böses Blut da u. | bin ich begierig, wie die Frequenz im nächsten Semester[7] wird. Unsere Einweihung[8] besucht weder Kaiser noch Kronprinz, infolge von Nörgeleien des Statthalters, der sie nicht hier haben möchte, aus Raumgründen, wie man sagt. Wer weiß, was da alles mitspielt. Uns aber wird es auch schaden; u. wir brauchen jetzt gar sehr einen Aufschwung, keine Hinabdrückung. Die Philosophie übrigens befindet sich persönlich in ihren beiden Vertretern wohl. An Dozenten nehmen wir zu: Dr. Gothein[d] aus Breslau[9] hat sich hier für neuere Geschichte habilitirt, ein Mann voller allgemeiner Gesichtspunkte u. Ideen, über deren Tatsächlichkeit ich mir kein Urteil erlaube. Ein sehr brillanter Redner, der gewiß Erfolge haben wird.
Heute Abend werd ich bei Laas, der nicht verreist, ebensowenig wie ich, in Gesellschaft sein. Hartwig[10] | war vor 4 Wochen auf der Durchreise hier. Möge ihn die Kaltwasserkur nur recht gestärkt haben. Hier strömt natürlich alles fort, ins Gebirge – Baracks, Nöldekes, ten Brinks[11] u. ich weiß nicht wer sonst noch alle nach Herrenalb[12]. Was haben Sie für Pläne? Ich vermute, Sie kommen auch nach dem Süden, für die Ferien.
Bei mir im Hause geht es i[m] g[anzen] gut; eine meiner Töchter ist zu einer Luft-Kur in den hohen Schwarzwald. Heiß ist es hier genug; ich will in den Ferien mächtig arbeiten; im September ziehen die Seminare um!
Nun leben Sie wohl. Möge es Ihnen gut gehen, das wünscht von Herzen Ihr ergebenster
G. Gerland
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑Datum meiner Antwort ] in Straßburg ging das Sommersemester 1884 vom 21.4. bis 9.8.1884, vgl. das Vorlesungsverzeichnis (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k3217046h (9.8.2024)).4↑Windelband nach H. berufen ] als Nachfolger für Ulrici, vgl. Vaihinger an Eduard Zeller vom 27.6.1884. Ein Ruf erging nicht.5↑Gottschicks über Ihren Kant II ] der 1. Bd. von Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft erschien in zwei Teilen 1881/1882, der 2. Bd. erschien erst 1892. Vgl. die Rezension von Johannes Gottschick in: Theologische Literaturzeitung 9 (1884), S. 20–22.6↑heftigen Bewegungen ] vgl. die Notiz in Neue Freie Presse, Nr. 7122 vom 25.6.1884, Abendblatt: Am 19. d. wurde – wie man uns aus Straßburg meldet – daselbst unter außerordentlicher Theilnahme der akademischen Kreise der Rechtscandidat Hettner, ein Sohn des vor einigen Monaten verstorbenen Literarhistorikers Hermann Hettner in Dresden, zu Grabe getragen. Hettner hat seinem Leben selbst durch Erschießen ein Ende gemacht, nachdem er wegen Ablehnung einer Herausforderung durch das Corps „Palatia“ von diesem in Verruf gesteckt worden war. Abermals hat also der Duellwahnsinn, der wie eine schreckliche Krankheit auf den deutschen Universitäten grassirt, ein blühendes Menschenleben zerstört. Wenn es dabei noch um große Dinge ginge! Aber gewöhnlich ist es die albernste Lappalie, welche eine krankhaft ehrgeizige Jugend zu dem blutigen Spiele um Tod und Leben reizt und Jeden, der diesem Terrorismus sich nicht fügt, in die schändlichste Acht erklärt.7↑Frequenz im nächsten Semester ] im WS 1884/1885 waren in der philosophischen Fakultät der Universität Straßburg 161 Studenten eingeschrieben, in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fakultät 191, in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fakultät 181, in der theologischen 90, in der rechts- und staatswissenschaftlichen 182, in der medizinischen 204; gegenüber (in der selben Reihenfolge) 172, 174, 89, 201, 191 im SS 1884; vgl. die statistischen Anhänge zu den jeweiligen Personalverzeichnissen (erreichbar via https://gallica.bnf.fr (9.8.2024)).8↑Unsere Einweihung ] vgl. Die Einweihung der Neubauten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg. 26.–28. October 1884. Officieller Festbericht. Straßburg: J. H. Ed. Heitz 1884.9↑Dr. Gothein aus Breslau ] Eberhard Gothein (1853–1923), 1877 in Breslau promoviert, 1878 in Breslau habilitiert, 1884 nach Straßburg umhabilitiert, 1885 o. Prof. für Nationalökonomie an der Technischen Hochschule Karlsruhe, 1890 in Bonn, 1904 in Heidelberg (NDB; https://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/118718258/biografie (9.8.2024)).10↑Hartwig ] Ernst Hartwig (1851–1923), Astronom, nach Studium in Erlangen, Leipzig, Göttingen und München an der Universitäts-Sternwarte in Straßburg angestellt. 1880 promoviert, 1882/1883 Leiter der deutschen Venus-Expedition nach Bahia Blanca. 1884 in Dorpat, 1886 Direktor der zu errichtenden Sternwarte Bamberg (eröffnet 1889; NDB).11↑Baracks, Nöldekes, ten Brinks ] die Familien des Straßburger Universitätsdirektors Karl August Barrack (1827–1900, NDB), des Orientalisten Theodor Nöldeke (1836–1930, NDB) sowie des Professors für englische Philologie Bernhard ten Brink (1841–1892, https://professorenkatalog.online.uni-marburg.de/de/pkat/gsrec/details?current=1&q=brink (9.8.2024)).▲