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- TitleAnton von Leclair an Vaihinger, o. O., o. D. [nach 1883], 4 S., hs. (teilweise andere Hd.), Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 17
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 17
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Anton von Leclair an Vaihinger, o. O., o. D. [nach 1883], 4 S., hs. (teilweise andere Hd.), Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 6 m, Nr. 17
Hochgeehrter Herr!
Verzeihen Sie[a], wenn ich es wage, Sie mit einer Bitte zu belästigen, die sich an das gewichtige Urteil des vielerprobten Fachmannes, Universitätslehrers und zugleich praktisch erfahrenen Gymnasialpädagogen wendet.
Ich wurde von einem vortragenden Rathe in unserem Unterrichts-Ministerium, der vormals mein Lehrer war, aufgefordert Studien zu machen über die Frage des gymnasialen Unterrichtes in philosophischen Fächern, m. a. W. über die Frage der philosophischen Propädeutik am Gymnasium und ich muss es als wahrscheinlich ansehen, dass mein Elaborat den Antrieb zu einer amtl[ichen] Verfügung, vielleicht zur Umgestaltung des Unterrichtes gibt. Gestatten Sie, dass ich mich im Folgenden wegen einer vorübergehenden Augenindisposition einer fremden Schrift bediene. – Unser jetziger Unterricht[b] stützt sich in seiner Einrichtung auf den 1849 unter H. Bonitz’[1] wesentlicher Mitwirkung entstandenen „Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Oesterreich“[c] und auf spätere Ministerial-Verordnungen.[2] Seit 1856[d] lehren wir im vorletzten Jahrescurs[e] (VII. Classe[f]) zwei Stunden wöchentlich formale Logik und im letzten (VIII. Classe[g]) 2 Stunden wöchentlich empirische Psychologie[h]. Auf jedes Fach entfallen effectiv 70 Lehrstunden des Jahres. Die dieser Einrichtung entsprungenen Lehrbücher von [G. A.] Lindner[3], Drbal[4], Zimmermann[5], Konvalina[6] sind Ihnen[i] sicherlich theilweise bekannt.
Nun gedenke ich mich aber über die Frage ohne jede Rücksicht auf die bei uns oder anderwärts bestehenden Einrichtungen oder auf das Vorhandensein entsprechender Lehrbehelfe auszusprechen, ausschließlich[j] geleitet von den Bedürfnissen des Gymnasiums und der Natur | der fraglichen Disciplinen. Und so möchte ich Sie denn gebeten haben, mir Ihre Anschauung über die gymnasiale[k] Behandlung der Philosophie überhaupt und über unsere österreichische Einrichtung insbesondere mitzutheilen. Mit dieser Textierung des Fragepunktes soll ein negatives Votum, welches ja auch seinen eigenen Werth beansprucht, keineswegs ausgeschlossen sein.
Am liebsten hätte ich zwar bei dieser Anfrage meine eigene Anschauung, wie sie sich an der Hand einer achtjährigen Lehrerfahrung und umfassender Fachstudien herausgebildet hat, gänzlich zurückgehalten. Da ich indessen auf Ihrer Seite eingehendere Vertrautheit mit unserem österreichischen[l] Gymnasium, seinen Bedürfnissen und seiner Leistungsfähigkeit nicht voraussetzen kann, so will ich gestehen, dass ich mir an der Mittelschule von einem tüchtigen Logik-Cursus[m] viel verspreche. Freilich ist dabei der passende Lehrer zum mindesten ebenso wichtig als ein passender Lehrbehelf, und zweifellos ist die erste Frage in der Praxis bei weitem schwieriger zu lösen als die zweite. Nur denke ich an mehr als die sog. „formale“ Schullogik, welche in dem minutiösen Detail ihrer[n] Syllogistik die höchsten Triumphe feiert. Namentlich scheint mir der herkömmliche Stoff in der Lehre vom Begriff und vom Urteil eine beträchtliche Erweiterung sowohl nach der Tiefe als der Breite zu vertragen, ebenso in der sog. Systematik, wo der Lehre vom Beweis und der Methode nach meiner Erfahrung selbst im Rahmen der jetzigen Organisation mit vollem Erfolg eine gründlichere und[o] ausführlichere Behandlung zu Theil werden kann. |
Auch das Verhältnis von Sprache (Grammatik) und Logik ist eingehend zu berücksichtigen. Es ist wirklich staunenswerth, dass das Gymnasium,[p] in dessen Organismus die Sprache als solche eine centrale Stellung einnimmt[q], seine Schüler in der Logik über Sätze wie z. B. „Das Gold ist gelb[r]“, „Der Hund bellt[s]“ oder „Wenn es regnet, so sind die Steine nass[t]“ nicht hinausführt.[u] Dass aber die logische Erörterung z. B. des Attributes oder der Objectarten oder der Functionen des Genitiv für Gymnasialschüler nicht verstiegen, sondern geradezu eine sachlich notwendige Ergänzung des vorangegangenen einseitig[v] grammatischen Unterrichtes ist, brauche ich wohl nicht weitläufig zu beweisen.
Weniger günstig denke ich über die Erfolge der „empirischen“ Psychologie. Es scheint mir zuweilen beim Überdenken dieser schwierigsten aller Unterrichtsfragen am klügsten gehandelt, jene Disciplin zu einer kurzen Einleitung zur Logik zusammenschrumpfen zu lassen. Was unsere Lehrbücher bieten, ist nicht Wissenschaft in demselben Sinne wie etwa Physik, Geometrie, Griechische Syntax, sondern es sind die specifischen Lehrmeinungen der Herbartischen Psychologie, ausgestutzt[w] mit einigen unverdauten Capiteln aus der modernen physiologischen Psychologie. Eine wahrhaft „empirische“ Psychologie ist ja selbst für den vollen Ernst der Fachwissenschaft ein noch unerreichtes Ideal und steht kaum ihrem Begriffe nach fest, geschweige denn, dass sie ausgeführt vorläge. Aus diesen Gründen verhalte ich mich gegenüber einer Psychologie als besonderer Gymnasialdisciplin skeptisch.
Vielleicht ließe[x] sich meine Idee durchführen, wenn dem Gegenstande in der obersten Classe drei Stunden wöchentlich, somit effectiv im Ganzen[y] etwas über 100 Stunden eingeräumt würden.[z] |
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie[aa] sich durch diese Erörterung veranlasst sehen sollten, mir Ihre eigene Meinung über die berührten Punkte zu entwickeln. Ich darf nämlich wohl voraussetzen, dass Sie nicht ungern ein Stündchen Ihrer Mußezeit[ab] der Erfüllung meiner Bitte widmen werden, die das Interesse der uns Beiden am Herzen liegenden Förderung des philosophischen Denkens, sowie das Interesse des höheren, gerade jetzt nach der Seite seiner Reformbedürftigkeit eifrig ventilierten Unterrichtes zum Gegenstande hat.
Mit dem Ausdrucke der aufrichtigsten Verehrung Ihr sehr ergebener
Dr. Ant. v. Leclair
P.S.[ac] Ich hoffe, dass die am 30. Juli vor[igen] J[ahres] von Graz[ad] aus an Sie[ae] abgegangene Kreuzbandsendung mit meinen „Beiträgen zu einer monist[ischen] Erkenntnistheorie“[7] an ihr Ziel gelangt ist.
Kommentar zum Textbefund
aa↑Sie ] in lateinischer Schrift (wie im Vorigen und Folgenden bei allen Anredepronomen), hier verbessert aus: sie (in deutscher Kurrentschrift)Kommentar der Herausgeber
1↑H. Bonitz’ ] Hermann Bonitz (1814–1888), Altphilologe, Pädagoge und Gymnasiallehrer, 1849 Prof. in Wien, 1867 Gymnasialdirektor in Berlin, 1875 Vortragender Rat im Preußischen Unterrichtsministerium (NDB).2↑Unser jetziger … Ministerial-Verordnungen. ] Bonitz hatte den „Entwurf“ (vgl. [Österreichisches] Ministerium des Cultus und Unterrichts: Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Oesterreich. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei 1849. Digitalisat: https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10679180-2 (9.2.2024)) gemeinsam mit Franz Exner (1802–1853) erarbeitet. Die am preußischen Modell orientierten Reformpläne Exners dienten dem 1849–1860 amtierenden Unterrichtsminister Dr. Leo Graf von Thun-Hohenstein (1811–1888) als Basis für die später nach ihm benannte Reform des österreichischen Schul- und Universitätswesens, zu der u. a. die Genehmigung des Entwurfs am 15.9.1849 und der Beschluss des Provisorischen Gesetzes über die Organisation der akademischen Behörden vom 30.9.1849 zählten. Damit wurde u. a. beschlossen, dass die bisher sechsklassige Mittelschule […] um die zwei philosophischen Pflichtjahrgänge erweitert, die „Maturitätsprüfung“ als Zugangsvoraussetzung für die Universitätsstudien eingeführt […] [wird]. Gleichzeitig verlor die Philosophische Fakultät ihren „Vorschulcharakter“ und wurde zu einer wissenschaftlichen Lehr-und Forschungsstätte ausgebaut. (Mühlberger, Kurt: Die Thun-Hohenstein’sche Universitätsreform. Das Ende der mittelalterlichen Korporation und die Entstehung der neuen „Ordinarienuniversität“ 1849–1850. https://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/die-thun-hohensteinsche-universitaetsreform (9.2.2024); vgl. https://geschichte.univie.ac.at/de/themen/lehr-und-lernfreiheit (9.2.2024); vgl. NDB).3↑[G. A.] Lindner ] Gustav Adolf Lindner (1828–1887), Gymnasiallehrer und -direktor, Philosoph (ADB); vgl. von Leclair an Vaihinger vom 2.4.1916.4↑Drbal ] Mathias Amos Drbal (1829–1885), Philosoph und Pädagoge (https://d-nb.info/gnd/123521076 (14.5.2024)).5↑Zimmermann ] meint vermutlich Robert von Zimmermann (1824–1898), seit 1861 o. Prof. der Philosophie an der Universität Wien, 1874 zum Hofrat ernannt, 1886/1887 Rektor (https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/robert-von-zimmermann-o-univ-prof-dr-phil (14.5.2024); BEdPh).6↑Konvalina ] Leopold Konvalina verfasste u. a.: Lehrbuch der formalen Logik. Wien: Alfred Hölder 1876. Näheres nicht ermittelt, vgl. http://viaf.org/viaf/217434296 (9.2.2024).7↑„Beiträgen zu … Erkenntnistheorie“ ] vgl. von Leclair: Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie. Breslau: Wilhelm Koebner 1882. Digitalisat: https://www.google.de/books/edition/Beitr%C3%A4ge_zu_einer_monistischen_Erkenntn/8TFVAAAAMAAJ?hl=de&gbpv=1 (11.1.2024). Erscheinen angezeigt im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vom 13.9.1882, S. 3873, gemeldet in dems. vom 25.9.1882, S. 4082.▲