Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 1.6.1883, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/27
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/27
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Vaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 1.6.1883, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/27
Straßburg 1.VI.83.
Hochzuverehrender Herr Professor!
Verschiedene Dinge nahmen meine Zeit im vergangenen Monat sehr in Anspruch und so komme ich erst heute dazu, Ihren Brief vom 25. April[1] zu beantworten.
Ich werde mich von einem so bedeutenden und hochgeehrten Manne, wie Sie es sind, gerne belehren lassen: aber die Beschuldigungen Ihres letzten Briefes bin ich mir im Innersten bewußt, nicht verdient zu haben. Ich mag einer an und für sich vielleicht geringfügigen Sache eine zu große Wichtigkeit und Tragweite beigelegt und Sie mit meinen Briefen in der Sache zu sehr in Anspruch | genommen haben – aber principiell halte ich meinen Standpunkt als einen, dem von Ihnen eingenommen immerhin gleichberechtigten, durchaus aufrecht. Ich bin der Ansicht, daß Anonymität in den richtigen Händen ein Schutz der wissenschaftlichen Wahrheit ist und daß ich in diesem Falle zu einer Namensnennung nicht verpflichtet war. Ich bedaure, meine Erwiderung nicht mit den Worten geschlossen zu haben[2]: „Da es im Interesse des sachlichen Zweckes einer wissenschaftlichen Kritik nicht wünschenswerth ist, daß diese Art – in einer objectiven Kritik einen persönlichen Angriff zu sehen und gar Namensnennung zu verlangen – in allgemeinen Gebrauch kommt, so halte auch ich mich für verbunden, dagegen zu protestiren.“ |
Ich kann mir nun sehr gut vorstellen, daß man diesen meinen Standpunkt nicht theilt, daß man ihn als einen unrichtigen verwirft, aber nicht – – daß[a] man ihn verwerflich finde.
Ein Freund von mir, der Sie hochachtet und den Sie hochachten, ist ganz meiner Ansicht.
Um aber dem Recensirten doch Gelegenheit zu geben, sich in einer wissenschaftlichen Specialschrift nicht blos gegen die Recension, sondern gegen den Recensenten zu vertheidigen, wollte ich das opus operatum thun, demselben meinen Namen privatim mitzutheilen[3]. Aber ich wollte nicht durch öffentliche Namensnennung früherem Recensierten Gelegenheit zu Revindicationen und Revanchen geben: denn ich bin mir bewußt, im Interesse der Wissen|schaft und Wahrheit Lob und Tadel ausgesprochen und nach bestem Wissen und Gewissen gerecht ausgetheilt zu haben: meine Recensionen begannen eine fruchtbare Wirksamkeit auszuüben und fanden in Fachkreisen große Beachtung. Eine Palinodie wie die von A. K. in No 20[4] d[es] J[ahres] gegen meine Recension in No 47 vom Jahre 1881[5], (welche der Recensirte selbst in seiner Vorrede zu seinem neuen Werk als „liebenswürdig“[6] anerkannte) kann ich nicht im Interesse der Sache und des Blattes gegründet finden.
Das wörtliche Concept meines Briefes[7] an Herrn Dr Natorp, den ich nach Erscheinen der Erwiderung am 29.IV. abgesendet habe, bitte ich zu meinen Briefen als Vervollständigung legen zu wollen.
Ich sende zugleich an die Expedition den Rest der Recensenda zurück, mit Ausnahme derjenigen, welche ich schon mit Notizen u. s. w. versehen habe: diese lasse ich auf mein Conto schreiben.
Genehmigen Sie den Ausdruck vollkommener Verehrung von Ihrem aufrichtig ergebensten
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Ihren Brief vom 25. April ] nicht überliefert; im Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Friedrich Zarncke und Vaihinger über eine Rezension eines Werkes von Natorp, vgl. die vorangegangenen Schreiben Vaihingers an Zarncke.2↑mit den Worten geschlossen zu haben ] vgl. Natorp und Vaihinger in: Literarisches Centralblatt, Nr. 18 vom 28.4.1883, Sp. 627–638: Erwiderung. | Der laufende Jahrg. Nr. 10 des Bl. enthält eine Besprechung meines Buches über Descartes’ Erkenntnistheorie, welche, durch den Gebrauch von Ausdrücken wie „unwürdig“, „Anmaßlichkeit“, die Grenzen sachlicher Erörterung überschreitet und den Charakter des persönlichen Angriffs annimmt. Da es im Interesse des sachlichen Zweckes einer wissenschaftlichen Polemik nicht wünschenswerth ist, daß diese Art des Angriffes in allgemeinem Gebrauch komme, so halte ich mich für verbunden, dagegen zu protestieren. Die wissenschaftliche Prüfung der Einwendungen des Referenten bleibt einer anderen Gelegenheit vorbehalten. | Marburg. Dr. P. Natorp. – Daß die Besprechung des Natorp’schen Werkes irgendwie die Grenzen rein wissenschaftlicher Diskussion überschritten habe, kann Ref. nicht anerkennen. Wenn die Dogmatisierung des Kantischen kritischen Gottesbegriffes „unwürdig“, also der Würde Kant’s nicht angemessen genannt worden ist, so liegt darin nichts Persönliches. Wenn ausdrücklich eine Methode (also nicht eine Person) als „anmaßlich“ bezeichnet worden ist, welche mit offen zur Schau getragener | Geringschätzung des exacten philologisch-historischen Verfahrens nicht „eine einfache Wiedergabe“, sondern eine „Umdeutung“ (Worte Natorp’s) zum Ziele hat, durch welche das Resultat der bisherigen auf kritischer Grundlage angestellten Untersuchungen „über den Haufen geworfen werden“ soll, so liegt auch darin wiederum gar nichts Persönliches. Nur übergroße Empfindlichkeit gegen sachliche Einwände kann einen persönlichen Angriff in einer Recension sehen, welche damit beginnt, den „Scharfsinn“ des Verf.’s in anerkennender Weise zu loben, und welche damit schließt, denselben ein „philosophisches Talent“ zu nennen. | Straßburg. Dr. H. Vaihinger.4↑A. K. in No 20 ] vgl. den Beginn von A. K. (d. i. vermutlich August Krohner): Bergmann, Dr. Jul., Prof., die Grundprobleme der Logik. Berlin, 1882. Mittler & Sohn. (IX, 196 S. 8.) M. 4. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 20 vom 12.5.1883, Sp. 684–685: Den Arbeiten des Professor Bergmann hat man vorgeworfen, daß sie dem Geiste der gegenwärtigen Wissenschaft fremd seien.5↑meine Recension in No 47 vom Jahre 1881 ] vgl. den Beginn von Vaihinger (ungezeichnet): Bergmann, Dr. Jul., Prof., Sein u. Erkennen. Eine fundamental-philosophische Untersuchung. Berlin, 1880. Mittler & Sohn. (IV, 191 S. gr. 8.) M. 4. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 47 vom 19.11.1881, Sp. 1601–1690: Trüge dieses Buch nicht die Jahreszahl 1880 und wäre nicht ein einziges Mal (S. 69) Mill erwähnt, so könnte diese Abhandlung ebenso gut oder viel eher aus dem Anfang des Jahrhunderts stammen, als aus der unmittelbaren Gegenwart.6↑„liebenswürdig“ ] vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit Vaihingers Rezension in: Julius Bergmann: Die Grundprobleme der Logik. Berlin: Mittler und Sohn 1882, S. III–VIII, Zitat auf S. VIII.▲