Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 2.5.1883, 4 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178309
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationWienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178309
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Vaihinger an Bartholomäus von Carneri, Straßburg, 2.5.1883, 4 S., hs., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-178309
Straßburg 2.V.83.
Hochverehrter Herr!
Wegen der beim Beginne eines Semesters sich häufenden Arbeit habe ich in[a] den letzten Tagen die oesterr[eichischen] Zeitungen nicht mehr in extenso verfolgt, ich habe aber gelesen, was der Ausgang des großen Kampfes um die Schule war: Man sieht wieder in diesem Falle, wie die an sich vernünftige Institution des Parlaments gelegentlich auch zum größten Fluche gereichen kann. Es war ein wahrer Riesenkampf. Mit höchstem Interesse[b] haben wir hier Ihre Rede[1] gelesen, welche Sie mir zuzusenden | die Güte hatten. Sie war entschieden ein Muster an Klarheit, Schärfe und Wucht. Auch Professor Schmidt war sehr entzückt von ihr.
Überall erfüllt der Gang der öffentlichen Angelegenheiten, bes[onders] in den Parlamenten den Freund der Wahrheit und Gerechtigkeit mit tiefster Trauer. Ich nehme keine Zeitung in die Hand, ohne mich zu fragen, welche Gemeinheit werde ich wieder zu lesen bekommen? Und das gilt ebenso von unserem kleinen elsaß lothringischen[c] Landesausschusse als vom deutschen, französischen Parlament. |
Ich möchte noch nicht glauben, daß der Sturz des jetzigen Ministeriums[2] eine nothwendige Bedingung meiner Berufung nach Graz ist; wenigstens entnehme ich das den übrigen mir zugegangenen Nachrichten nicht. Auch scheint ja der Cultusminister persönlich nicht allem Deutschen abhold, und außerdem scheint er doch eine Art Schaukelsystem zu verfolgen. Warum sollte da die Schaukel nicht auch einmal zu mir herüber kommen? Vielleicht hat er jetzt, nach dem conservativen Siege, auch einmal eine liberalere Anwandlung. Halten Sie das nicht für möglich? Möchten Sie mir diese | Hoffnung nicht rauben, sie wäre nicht durch eine entgegengesetzte Nachricht zu[d] zerstören. Conrad hat ja auch seinerzeit Erich Schmidt berufen[3], warum sollte er mich nicht berufen?
Ich war auch jüngst in Basel vorgeschlagen[4]; und erst nach mir Volkelt in Jena. Nun wurde aber Volkelt hinberufen, weil er schon Extraordinarius ist. Warum ich es noch nicht bin, habe ich Ihnen wohl früher mitgetheilt[5].
Edle Welt! Ihr Grundsatz ist „Wer da hat, dem wird gegeben, und wer da nicht hat, dem wird auch das Wenige, das er hat, genommen.“[6]
In herzlicher Verehrung Ihr ergebenster
H. Vaihinger.[e]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑Erich Schmidt berufen ] vgl. den Entwurf zu Vaihinger an Bartholomäus von Carneri vom 11.12.1882. Die Rede ist von dem Germanisten und Literaturhistoriker Erich Schmidt (1853–1913), nach Studium in Graz, Jena und Straßburg 1874 in Straßburg promoviert, 1875 in Würzburg habilitiert. 1877–1880 ao. Prof. in Straßburg, 1880 ao. Prof. Wien, 1881 o. Prof. 1885 Direktor des neu begründeten Goethe-Archivs in Weimar, 1887 o. Prof. in Berlin (Dekan 1899/1900, Rektor 1909/1910; NDB).4↑in Basel vorgeschlagen ] vgl. die Schreiben Hermann Siebecks an Vaihinger sowie Vaihinger an Eduard Zeller vom 28.1. u. 16.3.1883 sowie Vaihinger an Friedrich Zarncke vom 17.4. u. 6.5.1883.6↑„Wer … genommen.“ ] nach Matthäus 25,29: Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.▲