Bibliographic Metadata
- TitleMichael Bernays an Vaihinger, München, 1.3.1880, 6 S., hs., am Briefkopf grau eingedrucktes Monogramm MB, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 2 m, Nr. 1
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 2 m, Nr. 1
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Michael Bernays an Vaihinger, München, 1.3.1880, 6 S., hs., am Briefkopf grau eingedrucktes Monogramm MB, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 2 m, Nr. 1
München, Theresienstraße 26,
1 März 1880.
Verehrter College und Freund!
Eine so gehaltvolle Sendung, ein mir so hocherfreulicher Brief[1]! – und Wochen vergehen, bevor Sie ein Wort freudigen Dankes von mir vernehmen! – Aber ich darf mich dieser Versäumniß wegen nicht allzu hart anklagen, und Sie dürfen mir Ihre freundliche Nachsicht nicht vorenthalten. Dieser Winter mit seinem Despotismus hat auch mich auf eine harte Probe gestellt. Ich mußte alle Kräfte sorgsam und kläglich zusammenhalten, um nur eine Unterbrechung der Vorlesungen zu verhüten; ich mußte mir den brieflichen Verkehr auch mit den vertrautesten Freunden | versagen. Hat doch selbst mein theurer Erich Schmidt[2], der mir durch die Widmung seiner neuesten Schrift[3] eine außergewöhnliche Freude bereitete, bisher kaum ein flüchtiges Wort des Danks vernommen!
Ich darf Sie nun also als einen Genossen und Bruder in der Kritik begrüßen. Daß Sie beim Beginne dieser Thätigkeit mich als Führer nicht verschmähten, – das erweckt mir eine Empfindung, welche ich doch nicht anders als die des Stolzes bezeichnen kann. Wie rasch erstirbt in unserer Zeit die Wirkung und Nachwirkung rein wissenschaftlicher Arbeiten, wenn sie nicht von irgend einer Seite her dem lebendigen Interesse des Tages entgegenkommen! Durch Sie nun | erfahre ich, wie eine Arbeit, die schon vor anderthalb Decennien hervorgetreten, auf einen ebenso empfänglich wie thätig selbständigen Geist so frisch und anziehend einwirken kann, als sei sie vor wenigen Monden ans Licht gekommen. Es ist eine der schönsten und aufmunterungsten[a] Erfahrungen meines Lebens.
Daß Sie gleich im Beginne Ihrer kritischen Studien[4] einen so erfolgreichen Griff gethan, – darin möchten Sie ein verheißungsvolles Pfand künftiger Erfolge erblicken. Hat man sich die kritische Methode nur erst zur zweiten Natur gemacht, so scheinen sich die Ergebnisse, und oft ganz unerwartete, wie von selbst einzustellen. Gefühl und Scharfsinn wirken dann im schönen Bunde zusammen. Sie erinnern Sich, wie ich dies in der Einleitung zu der Ihnen liebgewordenen Schrift[5] andeute. Es war mir wohlthuend, aus Belgers Buch über Haupt (S. 124) zu sehen[b][6], daß der große Philolog gerade diesen meinen Satz im Colleg oder | Seminar zu citiren pflegte.
Wie anziehend ist die Frage nach der Entstehung der Prolegomena! Darf ich mich hier überhaupt eines Urtheils unterfangen, so glaube ich, daß man bei dem Endergebniß, zu dem Sie so behutsam gelangen, sich beruhigen muß. – Warum können wir nicht häufiger einer philosophisch-literarischen Zwiesprache pflegen? Besonders über Kants ältere kleine Schriften, in denen mir auch der Schriftsteller als solcher so bewundernswerth erscheint, wünschte ich mich gründlich mit Ihnen zu unterhalten. Kann man es eigentlich fassen, daß diese kleinen Wunderwerke von Lessing unbeachtet blieben? Den „Träumen eines Geistersehers“, die demselben Jahre wie der Laokoon[7] angehören[c], hätte er doch mit wahrem Jubel zustimmen müssen.
Könnten wir über solche und ähnliche Fragen, die mich so lebhaft | beschäftigen[d], häufiger mündlich verhandeln, so würde Ihre günstige Meinung von meinem Können und Wissen nothwendig eine für mich sehr ungünstige Umwandlung erfahren müssen. Aber immerhin: Wenn ich nur etwas lernte!
Mit Ihrer Ausgabe[8] der Kr[itik] d[er] r[einen] Vernunft werden Sie etwas Hochwichtiges und, vor Allem, etwas Nothwendiges leisten. Sie muß sich zu einem Denkmal der kritisch-historischen Methode gestalten; es ist wahrlich an der Zeit, daß ein solches auch im Bereiche der philosophischen Studien errichtet werde.[e] Ich würde auf alle Fälle zu den freudigsten und dankbarsten Empfängern dieser Gabe gehören. Dann sollte die Kritik der Urtheilskraft | folgen; und da würden Sie mit der größten Epoche unserer Dichtung in die unmittelbarste Berührung kommen. Es wäre doch nicht so übel, als ein Herausgeber Kants, wie wir bisher noch keinen besessen haben, in der Literatur dazustehen.
Haben Sie Redlichs Ausgabe der Lessingschen Briefe[9] schon sorgsamer durchmustert? Sie bietet eine wirkliche Bereicherung.[f]
Wollen Sie mich Martin[10] hochachtungsvoll empfehlen und meinem theuren Erich Schmidt die innigsten Grüße sagen? Erinnern Sie ihn in meinem Namen an die Schlußwoche des vorjährigen Wintersemesters, derer ich treulich gedenke.[g]
Wann sehe ich Sie einmal wieder hier[11]? Dank und abermals Dank von Ihrem wahrhaft ergebenen
Bernays.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Sendung … Brief ] nicht ermittelt. Wiederholte Anfragen beim Institut für Neue deutsche Literatur und Medien der Universität Kiel, Aufbewahrungsort des Nachlasses Bernays, blieben ohne jede Antwort.2↑Erich Schmidt ] Erich Schmidt (1853–1913), Germanist, nach Studium der Klassischen Philologie in Graz, Jena und Straßburg 1874 in Straßburg promoviert, 1875 in Würzburg habilitiert, 1877 ao. Prof. in Straßburg. 1880 in Wien, 1881 o. Prof. 1885 Direktor des neu begründeten Goethe-Archivs in Weimar, 1887 o. Prof. in Berlin (NDB). Zur Beziehung zu Bernays vgl. Erich Schmidts Artikel über Bernays in: Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 46 (1902), S. 404–409.3↑Widmung seiner neuesten Schrift ] vgl. Erich Schmidt: Beiträge zur Kenntniss der Klopstockschen Jugendlyrik aus Drucken und Handschriften nebst ungedruckten Oden Wielands gesammelt. Straßburg/London: Trübner 1880. Michael Bernays zugeeignet.4↑Beginne Ihrer kritischen Studien ] die Rede ist von Vaihinger: Eine Blattversetzung in Kant’s Prolegomena. In: Philosophische Monatshefte 15 (1879), S. 321–332; Sonderdruck Bonn: P. Neusser 1879. (Dass., Zweiter Artikel. [Historische Nachwirkungen.] In: Philosophische Monatshefte 15 [1879], S. 513–532).5↑liebgewordenen Schrift ] die Rede ist von Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes (1866), s. u.6↑zu sehen ] vgl. Christian Belger: Moriz Haupt als academischer Lehrer. Mit Bemerkungen Haupts zu Homer, den Tragikern, Theokrit, Plautus, Catull, Properz, Horaz, Tacitus, Wolfram von Eschenbach, und einer biographischen Einleitung. Berlin: W. Weber 1879, S. 124; innerhalb des Abdrucks der Kolleghefte von und nach Moriz Haupt über philologische Kritik und philologisches Emendieren. Mit Zitat nach Michael Bernays: „Hier muss es sich nun bewähren, sind M. Bernays’ treffende Worte, ob er wirklich im Geiste mit seinem Autor eins geworden ist, ob er dessen Wesen nach allen Seiten hin so durchdringend erkannt hat, dass ihm das Wahre, nach dem er sucht, wie durch innere Nothwendigkeit entgegenkommt; hier muss das Gefühl eben so wirksam sein, als der sondernde Scharfsinn.“ Vgl. Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin: Dümmler 1866 (An Nicolaus Delius), S. 7–8: Hier muß es sich nun bewähren, ob er wirklich im Geiste mit seinem Autor eins geworden ist, ob er dessen Wesen nach allen Seiten hin so durchdringend erkannt hat, daß ihm das Wahre, nach dem er sucht, wie durch eine innere Nothwendigkeit entgegenkommt; hier muß das Gefühl eben so wirksam thätig sein, wie der sondernde Scharfsinn: der Geist des Kritikers muß sich schöpferisch erweisen.7↑Laokoon ] vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) sowie Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766).8↑Ihrer Ausgabe ] eine Ausgabe von Kants Kritik der reinen Vernunft, herauszugeben von Vaihinger, ist nicht erschienen; vgl. über den Plan noch Richard Avenarius an Vaihinger vom 8.4.1880 sowie Vaihinger: Commentar zu Kants Kritk der reinen Vernunft, 1. Bd. 1881, Vorwort S. XII, Anm. 1: Es war ursprünglich meine Absicht, zugleich eine neue Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ nach den Grundsätzen der Philologie zu veranstalten. Verschiedene Umstände veranlassten mich jedoch, zunächst hievon Umgang [!] zu nehmen. Eine Folge jener Absicht ist, dass bei den Citaten aus der Kritik der r. V. stets die Seitenzahlen der ersten Ausgabe benutzt wurden, da eben aus philologischen Gründen jene Ausgabe, nicht die zweite, meiner Ansicht nach zu Grunde zu legen ist. – In dass., S. XIII, Anm. 2 findet sich übrigens die erste Erwähnung des Planes einer Zeitschriftengründung: Ich beabsichtige ausserdem, zur Förderung und Centralisirung der Kantforschungen eine Zeitschrift in freien Heften: Kantstudien herauszugeben.9↑Ausgabe der Lessingschen Briefe ] vgl. Lessing’s Werke Theil 20, Abtheilung 1/2. Briefe von Lessing. Hg. u. mit Anmerkungen begleitet von Carl Christian Redlich. Berlin: Hempel 1879.10↑Martin ] Ernst Martin (1841–1910), Germanist, 1866 in Heidelberg habilitiert, 1868 ao. Prof. in Freiburg/Breisgau, 1872 dort o. Prof., 1874 in Prag, seit 1877 in Straßburg (www.leo-bw.de (1.8.2024)).11↑einmal wieder hier ] ein früheres Zusammentreffen Vaihingers mit Bernays in München wäre z. B. im März 1878 möglich gewesen, vgl. Moritz Carrière an Vaihinger vom 26.3.1878.▲