Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Eduard von Hartmann, Bad Cannstatt, 25.8.1876, 4 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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- Physical LocationWürttembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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Vaihinger an Eduard von Hartmann, Bad Cannstatt, 25.8.1876, 4 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
Bad Cannstatt Würtemberg[a]
(Gellstraße 84)
den 25. August 1876
Verehrtester Herr Doctor![b]
Hoffentlich legen Sie es nicht in malam partem[c] aus, daß ich jetzt erst Ihre freundlichen Zeilen[1] aus Freiburg beantworte. Sie wissen[d] ja selbst, daß um diese Zeit alle Correspondenz wie durch einen Wirbelwind durcheinander gestreut ist. Ich traf Ihre werthen Zeilen hier, wohin | sie mir aus Berlin[2] nachgesendet worden sind; ich habe hier bei meinen Eltern einstweiligen Aufenthalt genommen, bis ich im nächsten Semester nach Straßburg zum Zwecke der Habilitation gehen werde. Ich kam von einer längeren Tour unwohl hieher & bin erst jetzt im Stande, Ihre werthen Zeilen, welche ohnedieß spät in meine Hände kamen, zu beantworten. – Daß ich stellenweise aus dem Ton wissenschaftlicher Discussion gefallen[3] bin, gebe ich mit Bedauern und Revocation zu: die Hitze der Arbeit und der Jugend führt da oft weiter, als man später selbst wünschte. In dieser Hinsicht wünsche ich Ihre Vergebung – | daß Sie dagegen „die Zusammenkoppelung mit Dühring, einer so untergeordneten Größe“ tadeln, dies finde ich zwar von Ihrem Standpunkt aus sehr natürlich; ich möchte dem aber und als einen Beweis, wie anders Andere urtheilen, die Thatsache[e] entgegenhalten, daß die einzigen tadelnden Bewertungen (allerdings von kantfreundlicher Seite) sich darauf bezogen, daß ich Dühring zu wenig habe zur Geltung gebracht; unter den von Ihnen gütigst genannten, hätte sich höchstens Kirchmann zur Antithese geeignet; allein ich gestehe, daß mir noch immer Dühring als der Passendste erschien; aber ich finde es höchst natürlich, daß Sie damit nicht einverstanden sind, und bin gespannt auf Ihre weiteren Auseinandersetzungen[4] hierüber. Es soll mich sehr freuen, wenn meine Schrift Ihnen die Gelegenheit gibt, sich über Kriticismus und | Skepticismus des Weiteren zu verbreiten; denn Jedermann, auch Ihre schärfsten Gegner, lesen stets gerne Ihre lichtvollen und klaren Artikel und ich glaube, daß Sie dadurch wesentlich zur Klärung der philosophischen Situation beitragen werden; Sie müssen sich vielleicht dabei überhaupt mit der Jungkantischen Richtung[5] im weiteren Sinne, auch mit der neuen Leipziger Zeitschriftspartei[6] auseinandersetzen, und ich glaube, daß Sie damit ebenso sich selbst, wie Ihren Gegnern, und dem Publicum dienen.
Ich hoffe & wünsche, daß die Badekur Ihre Gesundheit wesentlich gestärkt, und auch günstig auf das Befinden Ihrer Frau Gemahlin[7] eingewirkt habe, der ich mich angelegentlich zu empfehlen bitte.
Mit dem Ausdruck gewohnter Hochachtung Ew. Wohlgeboren ergebenster
Dr. Hans Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑aus dem Ton wissenschaftlicher Discussion gefallen ] in der Schrift: Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der deutschen Philosophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritischer Essay. Iserlohn: J. Baedeker 1876.4↑Ihre weiteren Auseinandersetzungen ] vgl. Eduard von Hartmann: Friedrich Albert Lange und sein Jünger Hans Vaihinger. In: Beilage zur Wiener Abendpost (= Beilage zur Wiener Zeitung), Nr. 295–297 vom 28.–30.12.1876; ders.: Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus in ihrer Stellung zu den philosophischen Aufgaben der Gegenwart. Zweite erweiterte Auflage der „Erläuterungen zur Metaphysik des Unbewussten“. Berlin: C. Duncker 1877.5↑Jungkantischen Richtung ] diesen Ausdruck, gebildet nach Junghegelianer und gerichtet gegen orthodoxe Kantianer (vgl. Vaihinger an Friedrich Zarncke vom 20.1. u.17.4.1883), gebraucht auch Johannes Volkelt in seiner Kritik von Vaihinger: Hartmann, Dühring und Lange (1876), in: Jenaer Literaturzeitung 4 (1877), Nr. 22 vom 2.6.1877, S. 339–342 (https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jparticle_00233727?XSL. (1.8.2024)), die in die Worte ausläuft: Er besitzt absolut kein Mittel, um irgendwie den Beweis zu erbringen, dass die Erscheinungsreihe, die aus seinem Bewusstsein austritt, überhaupt noch weiter existire, geschweige denn, um zu bestimmen, in welcher Gestalt dies geschehe. Für seine ‚Wissenschaft‘ existirt nur jenes Conglomerat zusammenhangslos durcheinandergeschobener Bruchstücke, von denen jedes einzelne selbst wiederum zum grössten Teil ein bloss äusserlich zusammengefügtes Nacheinander bildet. Von diesen letzten Consequenzen zeigt Vaihinger nicht die mindeste Ahnung. Und doch folgen Sie [gesperrt:] mit unbedingt zwingender Nothwendigkeit [Sperrung Ende] aus dem Fundamentalsatze des Kriticismus, dass unser ganzes Denken nur intersubjective Bedeutung hat. Vor allen Dingen hat sich der Jungkantianismus diese Consequenzen zum Bewusstsein zu bringen. Wird er zum Bewusstsein dieser seiner beispiellosen Armseligkeit und Hilflosigkeit gelangt sein, dann wird er wohl auch zugeben müssen, dass die ‚wissenschaftliche‘ Philosophie, zu der er zu führen meinte, nichts weniger als Wissenschaft, sondern eitel Spott und Hohn auf alle Wissenschaft ist. Seinen Gegnern aber wird erst dann um so leichter gelingen, die das objective Sein beherrschende und erzwingende Macht des Denkens zu erweisen.6↑neuen Leipziger Zeitschriftspartei ] wenn nicht die seit 1874 in Leipzig erscheinende Jenaer Literaturzeitung gemeint ist (siehe vorstehend), dann vielleicht die von Friedrich Zarncke in Leipzig redigierte Zeitschrift Literarisches Centralblatt (diese erschien allerdings bereits seit 1850), vgl. die kurz gehaltene, zustimmende, dem Usus der Zeitschrift folgende anonyme Besprechung von Vaihinger: Hartmann, Dühring und Lange (1876) in: Literarisches Centralblatt, Nr. 27 vom 30.6.1877, Sp. 880. Neu erschien in Leipzig seit 1876 die Zeitschrift Theologische Literaturzeitung, in der erst 1878 eine Auseinandersetzung mit Vaihingers Werk erschienen ist, vgl. Edmund Pfleiderer in: Theologische Literaturzeitung, Nr. 4 vom 16.2.1878, Sp. 97–99 (http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/thlz_003_1878 (1.8.2024)).▲