Titelaufnahme
- TitelBegegnungen mit Nietzsche : ein Beitrag zu Nietzsche-Rezeptionstendenzen im chinesischen Leben und Denken von 1919 bis heute / vorgelegt von Longfa Yu
- Beteiligte
- Erschienen
- Umfang1 Computerdatei (ca. 509 KB) : Auszüge (Titel, Vorbemerkung, Danksagung, Inhaltsverzeichnis, ca. 16 KB)
- HochschulschriftWuppertal, Univ., Diss., 2000
- SpracheDeutsch
- DokumenttypDissertation
- URN
- Das Dokument ist frei verfügbar
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- Nachweis
- Archiv
- IIIF
Deutsch
Das Anliegen der vorliegenden Arbeit war es, wie der Titel besagt, einen Überblick über die chinesische Nietzsche-Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert zu geben und die spezifischen Begegnungen der chinesischen Rezipienten mit Nietzsches Philosophie zu erhellen. Dabei hat sich herausgestellt, daß die Gesamtentwicklung der Rezeption in drei Schritte aufgeteilt ist: Die erste Phase der "individualistischen" Nietzsche-Rezeption im Rahmen der sogenannten "4.-Mai-Bewegung" von 1919, dann die zweite, geradezu "militaristische" Phase während des chinesisch-japanischen Krieges in den vierziger Jahren, und schließlich die neue Begeisterung für Nietzsche als "Lebensphilosoph" im Zuge der Öffnungspolitik der achtziger Jahre. Es hat sich dabei auch ergeben, daß das Interesse an Nietzsches Werk immer eng mit dem jeweiligen Zeitgeist verbunden ist. Nietzsches erste Leser und Verehrer in China sind keine akademischen Philosophen, sondern vor allem Journalisten und Literaten. Nachdem sie Nietzsches Schriften entdeckt hatten, griffen sie deren eigentümliches Pathos auf, um. z.B. Stellung zum jeweiligen Zeitgeschehen in China zu nehmen und das westliche Denken zur Überwindung der eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Krise der Moderne nutzbar zu machen. Sie gehen deshalb von wenigen populären Schlagworten und Sentenzen aus und versuchen von einem unmittelbaren Textverständnis her Nietzsche zu erklären. Als erster Vermittler hatte der Sozialreformer und Kulturerneuer Liang Qichao z.B. zum Zweck der Umgestaltung des alten Gesellschaftssystems Nietzsche vornehmlich als "revolutionären" Zerstörer angesehen und war vom Egoismus in der Philosophie Nietzsches begeistert. Als Folge der einseitigen Sichtweise Liangs wurde Nietzsche in China vor allem zu einem kämpferischen Vorbild für den Individualismus, aber gleichzeitig auch zu einem "Spielzeug" des Zeitgeistes. Einen Schritt weiter in Richtung der "individualistischen" Betrachtung der Philosophie Nietzsches ging versuchsweise der Ci-Dichtungsforscher Wang Guowei, der im Gegensatz zu Liang Qichao den Philosophen Nietzsche eher als ein Vorbild für die Kritik an der Kultur betrachtete. Er suchte auf der Grundlage dieser Ansätze die konfuzianischen Doktrinen anzugreifen und Nietzsches Gedanken über die Entwicklung von Persönlichkeiten oder "Genies" weiterzuführen. Wang sagte nicht unpathetisch: Nietzsche erhebt sich mit einer Geste und appelliert an die Welt, um die moderne Zivilisation zu zerstören. Ein Bild von einem deutschen Kulturkritiker in China zu vermitteln, ist offensichtlich das Anliegen Wangs. Auch Lu Xuns Vermittlung steht in Verbindung mit dem aktuellen Zeitgeschehen, an dem er mittels des Übermensch-Konzepts vehemente Kritik am chinesischen Nationalcharakter ausübte. Besonders deutlich zeigt sich seine Vorliebe für das Werk Also sprach Zarathustra, denn er sah die Figur des Zarathustra vor allem als großes Individuum, an welchem es in China mangelte. Insbesondere in der 4.-Mai-Bewegung von 1919 wurde der Aspekt des Kulturkritikers Nietzsche betont, indem Nietzsche-Vermittler wie Chen Duxiu, Mao Dun und Guo Moruo sogar der Ansicht waren, daß Nietzsche als Werkzeug dienen könne, um die chinesische Tradition zu kritisieren und gleichzeitig eine neue Kultur in China zu erschaffen. Die Euphorien über die Kulturkritik bei Nietzsche entsprach ihrer Meinung nach gerade dem Zweck zur Kulturerneuerung. In der Tat konnten sie sich nicht auf fundierte Kenntnisse stützen, versuchten jedoch, Nietzsche ausgehend von ihren eigenen kulturellen Wurzeln her zu interpretieren. Sowohl im Westen wie auch in China verlief die Rezeption Nietzsches nicht geradlinig. In China tauchte Nietzsches Name in einem lebhaften "Nietzsche-Streit" auf, der sich tatsächlich auf den antijapanischen Krieg bezog. Ein Beispiel für die Art, wie Nietzsches Lehre dort während des Krieges weiterverarbeitet wurde, ist Chen Quans Beitrag zur Bekanntmachung des Helden-Motivs. Er verband das Motiv des Heldentums, das er in Nietzsches Schriften entdeckt hatte, mit dem damaligen Zeitgeschehen. In der Zeit der 50er bis 70er Jahre kam es auf dem Festland zu einer Unterbrechung der NietzscAnfang der 80er Jahre kam es zuerst zu der "Sartre-Welle", wobei man über die Aufnahme der Existenzphilosophie begeistert war; als die zweite war die "Freut-Welle", die in der Mitte der 80er Jahre stattgefunden hat. Der dritten Welle, nämlich der Nietzsche-Welle begegnete man etwa vor und nach dem Jahr 1987. Sie war in gewissem Sinne eine Fortsetzung der eben erwähnten zwei "Wellen". Die Bereitschaft zur begeisterten Einfuhr der modernen westlichen Philosophie hat sich aus der heftigen Diskussion über das totale Befreien des Denkens und aus dem Hintergrund der angefangenen wirtschaftlichen Reform ergeben. Mit der Öffnung Chinas nach außen etablierte sich in China eine neue politische, wirtschaftliche und kulturelle Struktur, in der sich soziale Umgebung und Psy- chologie des Menschen anders orientierten, zumal die junge Generation auf der Grundlage der Reflexion der "Kulturrevolution" große Sehnsucht nach Besei- tigung aller durch die Kulturrevolution hervorgerufenen Verwirrungen hatte. Die Nietzsche-Welle spiegelte sich in gewissem Sinne eine innere Haltung der Jugendlichen zu ihrer geistigen Krise. Wie viele junge Studenten war ich damals auch begeistert über Nietzsches Thesen und Gedanken, wie z.B. die ‚Umwertung aller Werte' oder ‚Gott ist tot' sowie die Parole ‚Tut, was ihr wollt', was als Anspielungen auf den chinesischen Führer Mao Zedong verstanden werden konnte, der Jahre lang in China das chinesische Denken und Leben dominiert und vereinnahmt hatte. Man versuchte seine Distanz oder sogar seine Abwendung vom vergöttlichen Gedankengut der Mao-Zeit auszudrücken. An dieser Stelle sei besonders zu erwähnen, daß in den 1980er Jahren vornehmlich eine komparativ ausgerichtete Nietzsche-Begegnung stattgefunden hat. Die erneute Erkenntnis der Philosophie Nietzsches und die signalisierte Bereitschaft zur Einfuhr von westlichen Gedankengut machte manche Intellektuellen auf eine vergleichende Studie über Lu Xun und Nietzsches aufmerksam. Im Blick auf die gesamte gegenwärtige Nietzsche-Rezeption in China ist daher festzustellen: Die Rezipienten, deren Beiträge eine Popularisierung der Philosophie Nietzsches in China bewirkten, gehören trotz der genannten Einschränkungen zu den Vermittlern, die eine erste Stufe der Rezeption eingeleitet haben. Dies zeigt sich vor allem in dem vielbetonten kulturkritischen Ansatz in bezug auf die Situation in China. Ebenso hängt das Problem mit der politischen Empfindlichkeit der Intellektuellen zusammen, die sich aus ihrem eigenen Blickwinkel der Philosophie Nietzsches zuwandten, von der sie sich ein Mittel gegen die sozialen Mißstände erhofften. Diese Art der Rezeption blieb deshalb eingeschränkt, weil die unkritische Begeisterung für den "letzten Jünger des Philosophen Dionysos" in der Tat einen distanzierten Abstand schaffte. Hier spricht man von notwendiger Nüchternheit, die meines Erachtens bei der Nietzsche-Rezeption in China dringend erforderlich wäre. "Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Grenze der Begeisterung." (Hölderlin) Diese nüchterne Betrachtungsweise setzt einen Verzicht auf das bislang geläufige Denkmodell der Klassen und deren Analysen voraus. Man sollte in diesem Sinne weiter blicken, indem man zuerst einige Schritte zurückgeht, um die wahre Natur der "Lushan-Berge" richtig zu erkennen. So wie Nietzsche durch den Sprung zu den Vorplatonikern die Wahrheit seines griechischen Gottes Dionysos entdeckt hat. "Über mich und dich hinaus! Kosmisch empfinden!" (Nietzsche)
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