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- TitleNr. 8, Heft mit Fadenheftung und Umschlag aus blauem Papier, mit eigenhändigem Titel Grundriß der Psychologie. | Entwurf einer systematischen Behandlung der Erfahrungsseelenlehre von Dr. Wilh. Windelband., auf dem Umschlag Bleistiftnotiz von anderer Hd. H 58169 Fock 6, dazwischen vermutlich eigenhändige Datierung 1878, oben rechts vermutlich eigenhändige Nummerierung I, Abfassungszeitraum ca. 1876–1878/79, Umfang: 36 S., davon beschrieben: 20, Textbeginn auf Bl. 1r, hs. (dt. Schrift), schwarze Tinte, Maße: 20,5 x 16,7 cm, Universitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai (Japan): II, A 2–2 WW 1, 8
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Nr. 8[1], Heft mit Fadenheftung und Umschlag aus blauem Papier, mit eigenhändigem Titel Grundriß der Psychologie. | Entwurf einer systematischen Behandlung der Erfahrungsseelenlehre von Dr. Wilh. Windelband., auf dem Umschlag Bleistiftnotiz von anderer Hd. H 58169 Fock 6, dazwischen vermutlich eigenhändige Datierung 1878, oben rechts vermutlich eigenhändige Nummerierung I, Abfassungszeitraum ca. 1876–1878/79, Umfang: 36 S., davon beschrieben: 20, Textbeginn auf Bl. 1r, hs. (dt. Schrift), schwarze Tinte, Maße: 20,5 x 16,7 cm, Universitätsbibliothek der Tohoku Universität Sendai (Japan): II, A 2–2 WW 1, 8
Grundriß der Psychologie.
Entwurf einer systematischen Behandlung der Erfahrungsseelenlehre von Dr. Wilh. Windelband[a] |[b]
Vorwort[c].
Ueber Standpunkt und Methode dieser Bearbeitung der Psychologie ist in diesem Werke[d] so viel und in diesem ersten Bande so ausschließlich[e] die Rede, daß ich schon fürchten muß manchem Leser damit zuviel gethan zu haben, und daß ich mich einer Auseinandersetzung darüber in einer Vorrede jedenfalls enthoben halten kann[f]. Ja, wenn man finden sollte, daß dies ganze Werk und nicht nur sein erstes Buch eigentlich nicht von den psychischen Thatsachen[g] selbst, sondern im Wesentlichen nur von der Methode ihrer Erkenntniß[h] handelt, so haben auch die Gründe, welche mich dazu bestimmt haben, in der Darstellung[i] eine so ausführliche Auseinandersetzung gefunden, daß ich sie hier nicht vorweg nehmen darf.
Nur eine Bemerkung wünsche ich deshalb der Aufnahme dieser Untersuchungen vorauszuschicken. Der „Grundriß der Psychologie“, dessen ersten Theil ich hiermit der Oeffentlichkeit übergebe, will kein Lehrbuch[j] sein und bittet deshalb auch nicht als solches beurtheilt zu werden. Ueberzeugt, daß es der psychologischen Forschung bei ihrem gegenwärtigen Zustande[k] in erster Linie auf Einigung über ihre gemeinsame Methode ankommt, habe ich nur an der Lösung[l] dieser Aufgabe zunächst meinerseits arbeiten wollen. Der Schwerpunkt meiner Untersuchungen liegt deshalb allerdings in der Entwickelung der methodologischen Principien, wie sie in diesem Bande enthalten ist, und man wird es in den Kauf nehmen müssen, wenn man dieselben, damit sie breite und sichere Basis fänden, mit allgemeineren erkenntnißtheoretischen Betrachtungen mehr als man es sonst im Eingange der besonderen Wissenschaften gewohnt ist, durchsetzt findet[m]. Allein, wenn ich die Männer psychologischer Forschung für den von mir eingeschlagenen Weg irgendwie zu interessiren hoffen möchte, so durfte ich bei der abstracten Darstellung dieser Methode nicht stehen bleiben, sondern fühlte die Verpflichtung, diese Methode zugleich |[n] in ihrer lebendigen Entfaltung vorzuführen. So mußte ich denn den Versuch machen, das gesammte Gebiet der Psychologie in der systematischen Durcharbeitung, welche mir von der entwickelten Methode aus geboten scheint, wenigstens umrißweise zu skizziren. Aber indem ich dies versuchte, konnte es mir wiederum auch in den besonderen Gebieten nicht sowohl auf die Ueberlieferung und Darstellung des Kenntnißmaterials der Psychologie und auf die Lösung der einzelnen Probleme, als vielmehr auf die systematische Entwickelung dieser Probleme und auf die Ueberprüfung der Methoden ihrer Lösung ankommen. Ich würde es deshalb gern hinnehmen, wenn man mir entgegenhielte, ich hätte mehr für diejenigen geschrieben, welche selbst mitten in der Arbeit der Psychologie stehen, als für diejenigen, welche erfahren wollen, was die Wissenschaft über das Seelenleben festgestellt hat. Von diesem Gesichtspunkte aus möge man die[o] Behandlungsweise und Darstellungsweise dieses Versuches auffassen.
Es ist somit, was diese Blätter bieten, kein Lehrbuch, sondern der Entwurf des Rahmens, in welchem die einzelnen Untersuchungen Platz finden müßten, um später einmal zu einem Lehrbuch zu werden. Man könnte fragen, ob solch ein Entwurf an die Oeffentlichkeit gehöre. Ich meine, ja, und möchte das gerade mit diesem Buche begründet haben. Glücklich die Wissenschaften, in denen alle Probleme fest und klar formulirt oder sogleich formulirbar[p] sind, sodaß sie nur der Zeit und der Arbeit harren, um nach feststehenden Methoden gelöst zu werden! Die Psychologie ist in dieser glücklichen Lage nicht, freilich gefragt wird bei ihr und in ihr gar viel: aber, was ihr noch immer fehlt[q], ist eine methodische Erzeugung der Probleme und eine durchgängig wissenschaftliche Fragestellung derselben –[r] ein System der Fragen. Und dazu an meinem bescheidenen Theile beizutragen, war meine einzige Absicht. |[s]
Inhalt des ersten Bandes.[t]
I. Theil[w]. Methodologie der Psychologie[x] …… 20[y]
1. Cap[itel]. Der Begriff des Psychischen ……
§ 1. Die fundamentale Unterscheidung des Physischen und des Psychischen. § 2. Historische Entwicklung der Lehre vom inneren Sinn. § 3. Die Gegenstände der äußeren Sinne. § 4. Räumliche[z] Bewegung und psychische Thätigkeit als letzte Elemente des Bewußtseinsinhalts. Das Princip der directen und der indirecten Bewußtwerdung. § 5. Der propädeutische Character dieser Begriffsbestimmung.
2. Cap[itel]. Vom Bewußtsein[aa] …… 51[ab][2]
§ 6. Das Bewußtsein als Function der Vorstellungsstärke. § 7. Das Bewußtsein als unterscheidende Thätigkeit. § 8. Das Bewußtsein als Beziehung auf Object und Subject. § 9. Das Bewußtsein als vorstellende Thätigkeit und als innerer Sinn. § 10. Der secundäre Character des Bewußtseins. § 11. Die unbewußten psychischen Thätigkeiten. § 12. Grenzbestimmungen in der Anwendung der Hypothese des Unbewußten[3]. § 13. Die Einheit des Bewußtseins. § 14. Die Enge des Bewußtseins.
Einleitung.[ae]
Es ist das eigenthümliche Geschick aller von der Philosophie abhängigen Wissenschaften, daß sie nicht von einer in zweifelloser Anerkennung feststehenden Methode ausgehen und durch dieselbe einen Schatz allgemeingiltiger Wahrheiten als Grundlage weiterer Forschung entwickeln können, sondern vielmehr von jedem neuen Bearbeiter zunächst eine methodologische Grundlegung und eine Rechtfertigung seines besonderen Untersuchungsganges verlangen: und die Abhängigkeit, in welcher sich trotz allen Widerstrebens die Psychologie von der allgemeinen Philosophie[af] lange genug befunden hat und zum Theil noch jetzt befindet, zeigt sich vor Allem darin, daß wir in ihr noch keineswegs einen gemeinsamen Boden besitzen, auf welchem der einzelne Forscher getrost und unbehelligt weiter bauen könnte. Ja, selbst diejenigen, welche die Psychologie gänzlich von den allgemeinen Theorien der Philosophie abzulösen suchen, müssen doch unter diesem bisherigen Geschicke ihrer Wissenschaft insofern leiden, als sie sich einerseits genötigt sehen, eben diese Ablösung selbst zu begründen und zu vertheidigen, und als sie andrerseits zur Rechtfertigung derjenigen Behandlungsweise gezwungen sind, welche sie an die Stelle der metaphysisch beeinflußten Psychologie setzen zu sollen glauben. Denn die Psychologie befindet sich aus Gründen, welche in der Folge eine genauere Betrachtung finden werden, in der unerquicklichen Lage, daß für sie durch die [Ab]lehnung[ag] philosophischer Construction noch nicht, wie dies jetzt bei andern Wissenschaften der Fall ist, die positive Anerkennung einer bestimmten anderen Forschungsart eo ipso[ah] gegeben ist, sondern nur noch eine große Anzahl von Möglichkeiten innerhalb des allgemeinen Rahmens der „empirischen Methode“ übrig bleibt, zwischen welchen vor der eigentlich materiellen Forschung erst die Wahl getroffen werden muß. Solange deshalb die zahlreichen Versuche, welche zur Entscheidung dieser Wahl gemacht werden, noch nicht dahin geführt haben, daß eine oder die andre dieser methodologischen Begründungen der Psychologie zum Allgemeingut einer beträchtlichen Anzahl von Forschern geworden ist, wird die systematische Behandlung der Psychologie nicht unmittelbar in medias res[ai] gehen dürfen, sondern immer noch den pedantischen Anstrich haben müssen, daß sie sich nach dem ersehnten Lande der psychologischen Erkenntniß durch eine große Menge von Hindernissen und mit sorgfältigen und umfänglichen Vorbereitungen hindurcharbeitet.
Indem wir uns diesem Geschäfte unterziehen und zur Feststellung der Fundamente zunächst den Schutt forträumen, der auf dem Bauplatze liegt, begegnen uns zuerst die Trümmer der sog. rationalen Psychologie[aj]. Daß es eben nur noch |[ak] Trümmer sind und daß auch die Neubauten, welche die Nachfolger des „großen Zermalmers“[4] darin versucht haben, trotz ihrer glänzenden Architectur schnell wieder in sich zusammengestürzt sind, darf wohl als allgemein anerkannt vorausgesetzt werden; nicht in gleicher Ausdehnung vielleicht, aber doch bei der großen Mehrzahl der Zeitgenossen dürfte die weitere Ansicht obwalten, daß sie immer Trümmer bleiben werden: je mehr man aber selbst dieser Meinung beipflichtet, um so weniger sollte man[al] zu einer Zeit[am] in der es bei der zweifellosen Anerkennung der Empirie wohlfeil und überflüssig zugleich ist, einer rationalen Wissenschaft Fußtritte zu geben, mit einem wohl verdienten Zugeständniß zu Gunsten dieser vielgeschmähten rationalen Psychologie[an] zurückhalten. So hohl nämlich und schwankend auch die Grundlagen gewesen sein mögen, auf welchen man diese Gebäude der rationalen Psychologie aufzuführen unternahm, so hatten doch die letzteren alle den Vorzug, daß sie nach einem einheitlichen, systematisch in sich geschlossenen Plane hergestellt werden sollten: sie alle wuchsen aus dem Gedanken heraus, daß die ganze Gruppe von Vorgängen, welche wir als unser Seelenleben zu bezeichnen pflegen, ein organisches Ganze bilden und daß die wissenschaftliche Erkenntniß derselben sich nicht mit einer Sammlung äußerlicher Kenntnisse der einzelnen Begebenheiten und Begebenheitsmassen begnügen solle, sondern ihren inneren Zusammenhang in systematischer Einheit zu suchen habe. Diesen organisirenden Grundgedanken der gesammten rationalen Psychologie hätte die empiristische Ueberzeugung nicht mit den übrigen Irrthümern der dogmatischen Philosophie unter dieselbe Kategorie der Verwerfung stellen sollen; sie hätte vielmehr, selbst überzeugt, daß ein solches einheitliches System zur Zeit noch nicht mit Gewißheit und Vollständigkeit aufzustellen ist, doch daran festhalten sollen, daß in dieser Richtung immer das einzige Ziel aller wissenschaftlichen Arbeit liegt, und daß alle empirische Forschung nur dann Werth hat, wenn sie mit methodischem Bewußtsein diesem wenn auch in seiner Erreichung noch so fern stehenden Ideale zustrebt.
Der principielle Irrthum dagegen aller derjenigen Versuche, welche man historisch unter dem Namen der rationalen Psychologie zusammenfaßt, bestand darin, daß sie ihren Plan so einrichteten, das Haus vom Dache aus zu bauen. Sie suchten das organisirende Princip nicht in einem methodischen Gedanken der Erforschung, sondern vielmehr in einem obersten Erklärungsbegriffe, und diesen entnahmen sie einer ohne Hilfe der Erfahrung construirten und deshalb in letzter Instanz immer willkürlichen Metaphysik. Aus dieser Willkürlichkeit des Princips ergab sich zunächst der geringe Grad von Anerkennung, dessen sich jeder einzelne dieser Versuche erfreuen konnte: man mußte Anhänger eben dieser bestimmten Philosophie und von ihrer Metaphysik überzeugt sein, um sich mit dieser Psychologie überhaupt zu befreunden oder gar in ihre Bearbeitung selbständig einzutreten. Der Mangel einer geradlinigen und continuirlichen Entwickelung, |[ao] der Mangel einer gemeinsamen Arbeit vieler Forscher, welcher der allgemeinen Philosophie anhaftet, übertrug sich somit auch auf die Psychologie. Für die allgemeine Philosophie, welche eine sehr complicierte, aus vielen und mannigfaltigen Fäden sich zusammenwebende Culturstellung[ap] hat und unter den Begriff der Wissenschaft – ihrer historischen Erscheinung nach – nicht einfach subsumirt werden darf, ist diese Eigenthümlichkeit, in jedem bedeutenderen ihrer Vertreter ab ovo[aq] zu beginnen, nicht nur natürlich und begreiflich, sondern auch in gewisser Beziehung selbstverständlich und nothwendig: für die Psychologie aber, welche nichts ist und sein soll, als eine bestimmte, einzelne Wissenschaft mit ganz bestimmtem und begrenztem Gegenstande, muß durchaus wie bei den sog. exacten Wissenschaften eine feste Methode verlangt werden, in welche der einzelne Forscher nur einzutreten braucht, um schon gesicherte Grundlagen für seine Arbeit vorzufinden, und für sie[ar] ist deshalb der Mangel einer regelmäßigen und methodischen Entwickelung nichts weiter als sei es das Zeichen sei es der Grund ihrer Unreife. Wenn deshalb die hier nicht weiter zu besprechende Forderung, die Philosophie zur Wissenschaft zu erheben, sich meist so aussprach, daß man suchen müsse, an die Stelle der vielen Philosophien die[as] Philosophie zu setzen, so muß jetzt ganz sicher erst recht die Forderung aufgestellt werden, daß endlich einmal an die Stelle der vielen privaten Psychologien die[at] Psychologie als allgemeine Wissenschaft trete.
Allein auch abgesehen von dieser Hemmung einer gemeinsamen Arbeit führte der Umstand, daß die rationale Psychologie[au] den Ausgangspunct ihrer Deduction stets in irgend einer metaphysischen Theorie nahm, zu einer völligen Unfruchtbarkeit ihrer Arbeit schon aus dem Grunde, weil das Princip, von dem aus die Thatsachen des psychischen Lebens erklärt werden sollten, auf diese Weise dem Wesen der zu erklärenden Vorgänge äußerlich und unangemessen war. Denn nur ein glücklicher Zufall, der leider nicht eingetreten zu sein scheint, der glückliche Zufall nämlich, daß diese Metaphysik gerade die absolut wahre und im Besitz des richtigen Seelenbegriffs gewesen wäre, hätte es herbeiführen können, daß dies ohne methodische Verwerthung der psychischen Thatsachen gefundene Princip wirklich das richtige für die Erklärung derselben gewesen wäre. Darin aber bestand die Grundtäuschung der gesammten rationalen Philosophie, daß sie in einer rein begrifflich entwickelten Metaphysik das Universalmittel für die Erklärung aller Thatsachen gefunden zu haben meinte. Beseelt von dem idealen Gedanken einer fertigen Universalwissenschaft, in der mit Bezug auf die Gesammtheit alles Wissens[av] jene organische Einheitlichkeit erfüllt sein sollte, welche die rationale Psychologie für ihr bestimmtes Gebiet im Auge hatte, gerieth jede dogmatische Philosophie in die Gefahr, sich selbst mit ihrem Ideale zu verwechseln, und glaubte geleistet zu haben, was ihr als letztes Ziel aller Wissenschaft, als |[aw] „regulative Idee“ im Sinne Kant’s mit Recht vorschwebte. Und indem sie den Thatsachen des psychischen Lebens mit einem ihnen selbst mehr oder minder fremden Erklärungsprincip entgegentrat, konnte der Mißerfolg dieser künstlichen und zum Teil gewaltsamen Constructionen nicht ausbleiben.
Der Fehlgriff der rationalen Psychologie besteht also in nichts anderem als in ihrem von vorn herein zum Mißglücken verurtheilten Versuche der apriorischen Erklärung der Thatsachen, und es muß besonderes Gewicht darauf gelegt werden, daß dieser Irrthum eben derjenige einer verfehlten Erklärung[ax] war. Denn die Methode der metaphysischen Construction war – hier so gut wie auf allen anderen Gebieten – niemals eine Methode des Wissens, sondern immer nur eine solche des Erklärens. Niemals hat das apriorische Denken der Metaphysik ein neues Wissen erzeugen wollen oder erzeugen können: und wenn es in den begrifflichen Constructionen hie und da so scheint, als ob aus denselben plötzlich eine Thatsache des Wissens als ein neu Gefundenes herausspringe, so ist der wirkliche Thatbestand eben der, daß ein schon anderswoher Gewußtes hier seine metaphysische Erklärung gefunden hat. In der That würde man schier erstaunt über eine Metaphysik, welche als Resultat ihrer erklärenden Construction ein Wissen von Thatsachen hervorgebracht zu haben vorgäbe, welches nicht schon anderweitig, sei es durch allgemeine Erfahrung, sei es durch eine der besonderen Wissenschaften vorhanden wäre. Ja, das ganze Auslaufen jeder Metaphysik in die Thatsachen des allgemein vorhandenen Wissens beruht eben nur darauf, daß diese dem Metaphysiker schon auf andre Weise bekannt sind, und wenn Hegel[ay] Nichts von der Existenz der Natur vorher gewußt hätte, so ist durchaus zu bezweifeln, daß seine „Idee“ jemals Veranlassung gefunden hätte, „sich zu ihrem Anderssein zu entlassen“[5].
Der Fehler der sog. rationalen oder metaphysischen Wissenschaften liegt in ihrer einseitigen Richtung auf die erklärende Thätigkeit. In dem Bestreben, von den allgemeinen metaphysischen Centralbegriffen die Wirklichkeit zu begreifen, vergaßen sie die wissenschaftliche Feststellung dieser zu begreifenden Wirklichkeit; sie begnügten sich mit der völlig unkritischen Aufnahme der geläufigen Thatsachen und verschwendeten ihren ganzen Scharfsinn auf die begriffliche Erklärung derselben. So kam es, daß diese scheinbar stolz apriorisch einherwandelnden rationalen Wissenschaften im Geheimen mit der rohesten und kritiklosesten Empirie arbeiteten, welche man sich denken kann. Sie wollten erklären[az], ehe sie Sicheres von dem wußten[ba], was sie zu erklären sich vornahmen.
Der feindliche Gegensatz, der hier zwischen Wissen und Erklären auftritt, ist für die Geschichte wie für die Theorie der Wissenschaft überhaupt[bb] viel zu wichtig, als daß derselbe nicht – bei allem Verzichten auf die ausführliche Entwickelung einer erkenntnißtheoretischen Grundansicht – zu Gunsten der Klarlegung |[bc] der höchsten Principien wenigstens kurz erwähnt werden sollte. Wir verlangen in jeder Wissenschaft nicht nur eine Anzahl zuverlässiger, zu zweifelloser Gewißheit festgestellter Kenntnisse, sondern auch ein zu diesem Wissen hinzutretendes Begreifen und Erklären der Thatsachen. Was man darunter versteht, entspricht zunächst einem allgemeinen Bedürfniß des menschlichen Geistes, und dieses erwächst aus der psychologischen Thatsache, daß wir[bd] Verschiedenes nur dann zusammen zu denken vermögen, wenn es miteinander irgendwie in Beziehung gesetzt und zu einer Einheit verknüpft ist. Hieraus ergiebt sich anfänglich nur das Bestreben, alles neu in das Bewußtsein Tretende an schon Bekanntes und möglichst Geläufiges anzuknüpfen. Je mehr wir in einer neuen Wahrnehmung ältere und allgemeinere Vorstellungen wiederzuerkennen vermögen, um so „begreiflicher“ und „erklärlicher“ ist uns das Neue. Diese erste Form des Erklärens besteht also in der Zurückführung des bisher Unbekannten auf Bekanntes. Auch die Wissenschaft bedient sich dieser Form in der mannigfachsten Weise, indem sie mit der Analogie nicht zufrieden, die Unterordnung neu erkannter Thatsachen unter schon früher festgestellte allgemeinere Thatsachen verlangt. Ein Naturereigniß gilt als „begriffen“, wenn es aus den bekannten „Gesetzen“ abgeleitet werden kann; ein specielles Gesetz gilt als erklärt, wenn es als ein Specialfall eines allgemeineren Gesetzes erkannt worden ist. Auch die „causale Erklärung“ ist jedesmal die Subsumtion des vorliegenden Falles unter ein bekanntes Gesetz.
Aber bei dieser Erklärung des Neuen[be] durch Bekanntes bleibt es nicht stehen. Zur Gewohnheit geworden, beginnt das Erklärungsbedürfniß sich – ohne den inneren Widerspruch davon zu gewahren – auf den gesammten Inhalt des Bewußtseins zu erstrecken und von Allem ausnahmslos zu verlangen, daß es „erklärbar“ d. h. ableitbar sein müsse. Verhängnißvoll ist in dieser Beziehung namentlich das nie rastende Bestreben, auch die höchsten Gesetze, die allgemeinsten Thatsachen zu „begreifen“. Es gelingt, einzelne Thatsachen[bf] durch gewisse Gesetze zu erklären, es gelingt, diese Gesetze aus allgemeineren Gesetzen abzuleiten – und man vergißt, daß diese Kette nothwendig einen Endpunct haben muß, wo es nicht mehr zu erklären, sondern eben nur noch einfach zu wissen giebt. Die höchsten Puncte des menschlichen Wissens sind ihrem Begriffe nach „unbegreiflich“: wenn sie zur Erklärung alles Uebrigen dienen sollen, so sei man froh, sie zu wissen und quäle sich nicht in dem vergeblichen Bemühen, sie auch noch wieder irgendwoher abzuleiten.
Allein dieser Versuch noch höherer Ableitung ist deshalb so verführerisch, weil wir kein Criterium haben, wonach zu entscheiden wäre, ob ein Wissen, welches uns zur Zeit unableitbar erscheint, nicht schließlich doch einmal sich als ableitbar erweisen wird. Es kommt hinzu, daß wir genöthigt und völlig gewöhnt sind, mit unsrer erklärenden Thätigkeit aus dem Kreise des Gewußten herauszugehen. Es wären unserm Denken die kräftigsten Adern unterbunden, wenn wir immer darauf uns beschränkt halten sollten, |[bg] nur Bekanntes aus Bekanntem zu erklären. Schon für die völlige Erklärung der meisten Thatsachen, die wir neu erleben, bedürfen wir außer der Subsumtion unter ein bekanntes Gesetz der Annahme des Eintritts gewisser Bedingungen, welche uns selbst nicht unmittelbar bekannt sind, und deren Wirklichkeit wir vielmehr erst auf diese Weise erschließen: in diesem Falle also erklären wir das Bekannte durch etwas Unbekanntes, freilich zunächst nur, indem wir eine bekannte allgemeinere Thatsache zu Hilfe nehmen. Derartige Annahmen, welche wir[bh] behufs der Erklärung der Thatsachen machen, nennt man im Allgemeinen Hypothesen[bi]: doch muß man dabei sorgfältig auf einen Unterschied aufmerksam sein, den man am besten als denjenigen der immanenten[bj] und der transscendenten Hypothesen[bk] bezeichnet. Wenn man nämlich zur Erklärung irgend einer Thatsache nach einer bekannten Regel die Thatsächlichkeit einer Bedingung für dieselbe annimmt, so hält man sich damit in den Grenzen der erfahrbaren Wirklichkeit und ist eventuell sogar im Stande, die Realität des behufs der Erklärung Erschlossenen auf dem Wege der Erfahrung, durch Wahrnehmung, Beobachtung und Experiment zu bestätigen, oder wie man in neuester Zeit gern sagt, zu verificiren. Ganz anders dagegen steht die Sache, wo man, um sich die erfahrene Wirklichkeit zu erklären, zu frei gebildeten Vorstellungen greift, deren Realität ihrem Begriffe nach niemals durch erfahrungsmäßiges Wissen constatirt werden kann und welche deshalb aus dieser ihrer hypothetischen Stellung niemals in diejenige empirischer Gewißheit übergeführt werden können. Diese transscendenten Hypothesen, welche wir zur Erklärung der erfahrenen[bl] Wirklichkeit im gewöhnlichen Leben wie in der Wissenschaft fortwährend anwenden, erhalten ihre[bm] Gewißheit nicht durch thatsächliches Wissen, sondern vielmehr durch die Operationen des erklärenden Denkens, und unsre gesammte Weltauffassung ist mit solchen erklärenden Vorstellungen durchsetzt. Je weniger aber diese transscendenten Hypothesen unmittelbar durch die Erfahrung geprüft werden können, um so breiter ist natürlich der Spielraum, welcher damit für die construirende Phantasie aufgethan wird, und solange nicht die wissenschaftlichen Methoden für die Aufstellung und Begründung solcher Hypothesen feststehen, wird hier der Ursprung zahlloser Irrthümer zu suchen sein. Auf jeden Fall aber kehrt sich hier das anfängliche Wesen der Erklärungsthätigkeit völlig um: während man ursprünglich das Neue, verhältnißmäßig weniger Bekannte aus[bn] Bekanntem erklärt, wird[bo] nun das Bekannte, die erfahrene Wirklichkeit, aus dem verhältnißmäßig Unbekannteren, die bekannte Welt aus einer erdachten, hypothetischen Welt erklärt. So macht es die Naturwissenschaft, indem sie die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen aus den Bewegungen der von ihr angenommenen, unwahrnehmbaren Atome erklärt. So hat es von jeher die Metaphysik gethan, indem sie die Gesammtheit aller erfahrbaren Dinge zu erklären unternahm. |[bp]
Es ist hier nicht der Ort für eine Theorie der Methoden, nach welchen die wissenschaftliche Aufstellung und Begründung der transscendenten Hypothesen geschehen soll: diese Theorie würde nicht mehr und nicht weniger sein als –[bq] die Vollendung der modernen Logik. Nur der zugleich fördernden und hemmenden Bezüge muß gedacht werden, welche die im Leben der Wissenschaft stets vorhandene Verschmelzung des Wissens mit dem Erklären herbeiführt. Das Erklärungsbedürfniß ist zweifellos eine der wichtigsten Triebfedern für die Erweiterung des Wissens, indem es behufs seiner Befriedigung theils zur Aufsuchung neuer Thatsachen des Wissens theils zur Zusammenfassung einzelner Thatsachen unter dem Begriffe der[br] allgemeinen Thatsachen oder der Gesetze auffordert; und ebenso giebt die Reichhaltigkeit des Wissens nicht nur zahlreiche Veranlassungen, die Thatsachen desselben behufs ihrer Ordnung und Uebersichtlichkeit mit einander in erklärende Verhältnisse zu setzen, sondern auch die Mittel zu einer befriedigenden Lösung dieser Aufgabe. Allein neben diesen gegenseitigen Forderungen stehen nicht geringere Hemmungen. Die unmittelbare Befriedigung, welche in der Gewißheit der thatsächlichen Einzelerkenntniß liegt, und noch mehr das practische Interesse, welches sich leicht an dies einzelne Wissen anknüpft, sind mächtige Verleitungen zu einer einseitigen und schematischen Verfolgung rein empirischer Forschung, bei welcher der Sinn für die begreifende Durcharbeitung thatsächlichen Materials mehr und mehr verloren zu gehen um so mehr in Gefahr ist, als gerade die wachsende Fülle des Unerklärten das nachkommende Uebersehen, Ordnen und Begreifen in steigendem Maaße erschwert. Steht auf diese Weise unter Umständen[bs] das Wissen dem Erklären im Wege, so ist der umgekehrte Fall noch[bt] häufiger und zugleich noch[bu] gefährlicher. Die Beruhigung des Erkenntnißtriebes, welche der begreifenden Auffassung mit psychologischer Nothwendigkeit auch da beiwohnt, wo sie sich über ihre eigne Richtigkeit täuscht, kann hier direct die Aufsuchung desjenigen Wissens hindern, in welchem erst die wahre Erklärung bestehen würde. Und hier nun gerade besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den immanenten und den transscendenten Hypothesen. Bei jenen nämlich, welche durch Erfahrung verificirbar sind, pflegt man sogleich mit Beobachtung und Experiment die Probe zu machen und auf diese Weise sehr bald ihre Giltigkeit oder Ungiltigkeit festzustellen: diese dagegen, bei welchen eine solche Prüfung sich von selbst ausschließt, setzen sich, wenn sie nur dem Bedürfniß der Erklärung der bisher bekannten[bv] Erscheinungen Genüge thun, leicht als sichre Ueberzeugungen fest, werden auf diese Weise zu geläufigen und allgemein angenommenen Vorstellungen und bilden, so lange sie nicht durch eine glückliche Entdeckung oder eine kühne Kritik umgeworfen werden, eine hemmende Wand, jenseits deren[bw] man es nicht für nöthig hält, nach neuen Thatsachen des Wissens zu forschen. Einmal überzeugt, ein ausreichendes „Princip“ für die Erklärung einer Reihe von Erscheinungen zu besitzen, vernachlässigen dann wohl ganze Generationen die Ausbreitung des Wissens, vermöge deren allein die wahre Erklärung geliefert werden könnte.
Es würde zu weit führen, aus der Geschichte der Wissenschaften die zahlreichen Beispiele der Hemmung zu besprechen, welche in dieser letzteren Beziehung das früh|[bx]zeitige Erklären der Erweiterung des Wissens und damit in letzter Instanz dem richtigen Erklären selbst in den Weg gelegt hat: es mag genügen, an die Hindernisse zu erinnern, welche in mehr als einer Wissenschaft den Einblick in den causalen Zusammenhang der Erscheinungen durch teleologische Erklärungen bereitet worden sind. Gewiß hat die Aufmerksamkeit auf die zweckmäßige Beziehung zwischen den Functionen namentlich des organischen Lebens einen mächtig heuristischen Werth: allein sobald die Einsicht in diese teleologische Stellung eines Organs oder einer Thätigkeitsform als genügende Erklärung für dieselbe gilt, verschwindet gewöhnlich[by] das Interesse an der Aufsuchung der causalen Vermittlung, durch welche allein das Wissen bereichert werden könnte; man ist befriedigt, die Thatsache als eine zweckmäßige begriffen zu haben und denkt nicht mehr daran, sie causal zu erklären. Wie oft das zum Schaden der Erweiterung des Wissens[bz] geschehen ist, dürfte allmälig[ca] schon zum Ueberdruß hervorgehoben worden sein.
So mangelhaft nun auch der vollen Anforderung der Wissenschaft gegenüber das einseitige Betonen des Wissens ebenso wie dasjenige des Erklärens sein mögen, so zeigt doch die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens überall ein Ueberwiegen hier des einen dort des anderen Elements, und die vielbesprochene gegenseitige Ergänzung der empirischen und der philosophischen[cb] Wissenschaften wird unter diesem Gesichtspuncte am besten klar. Denn ebenso wie jene in das thatsächliche Wissen legen diese ihren Schwerpunct in das zusammenfassende Begreifen: da aber schließlich[cc] kein Wissen ohne Begreifen und umgekehrt kein Begreifen ohne ein Wissen möglich ist, so folgt hieraus, daß jene Unterscheidung keine scharfe Trennung, sondern nur eine relative Bestimmung sein kann. Jede zum Ganzen strebende, das Thatsächliche erklärende Tendenz macht mitten innerhalb der exacten Wissenschaften das philosophische Moment aus, und jede philosophische Theorie hat an den Thatsachen des empirischen Wissens eben das Object ihrer erklärenden Bestrebungen, ohne welche sie selbst gegenstandslos sein würde. So aufeinander angewiesen, gerathen trotzdem die empirische und die philosophische Wissenschaft oft genug mit einander in Conflict, weil ihre Erklärungsversuche in einem Gegensatze zu einander stehen, der auf denjenigen der immanenten und der transscendenten Hypothesen hinaus läuft.
Sofern nämlich die empirischen Wissenschaften jenem philosophischen Triebe der Erklärung folgen, schwebt ihnen, eben im Anschluß an die ausgebreitete Fülle ihrer empirischen Kenntnisse, durchgängig zunächst die immanente Erklärung des Erfahrbaren durch das Erfahrbare vor, und nur mit den ein ganzes Gebiet der Forschung abschließenden letzten Hypothesen pflegen sie in den Bereich von Constructionsbegriffen überzugreifen, ohne dabei, wenigstens in ihren besonneneren Vertretern, zu vergessen, daß sie damit die Region der philosophischen Erklärung betreten[cd]. So bleibt die Naturwissenschaft, wenn sie die einzelnen Erscheinungen erklärt, bei dem gesetzmäßigen Zusammenhange der Erscheinungen selbst stehen : nur in ihren abschließenden Untersuchungen über die Constitution der Materie greift sie, wie etwa in der Atomtheorie, zu frei gebildeten Constructionsbegriffen, und es wäre gut, wenn ihre Vertreter sich immer bewußt hielten, daß sie damit aus der empirischen Wissenschaft in die Naturphilosophie übergehen. |[ce]
In einer ganz anderen Richtung bewegen sich die philosophischen Erklärungen, wie sie unter dem Namen der Metaphysik in der Geschichte aufgetreten sind. Die gesammte Weltauffassung des Menschen ist, wie schon die allereinfachste Erfahrung, das bloße Wahrnehmen der Außenwelt zeigt[cf], von vorn herein mit einer großen Anzahl von erklärenden Begriffen durchsetzt, vermöge deren um hier nur an das Einfachste zu erinnern[cg], im Wahrnehmungsacte selbst die Elemente der Empfindung in das Verhältniß von Ding und Eigenschaft und bei der Betrachtung des Zusammenhanges der Dinge Beziehungen wie diejenigen der Identität, der Ursache und der Wirkung, der Kraft und des Stoffes zwischen ihnen gesetzt werden. Diese Beziehungen, aus der gesetzmäßigen Natur der Denkthätigkeit selbst hervorgegangen und in den Grundformen der menschlichen Sprache zu fester Gestalt geworden, entfalten ebensoviele erklärende Voraussetzungen oder (wie es Lotze[ch] sehr glücklich bezeichnet hat[6]) Vorurtheile[ci] über den gesammten Zusammenhang der Erscheinungen, und während sie dem gewöhnlichen Bewußtsein unmittelbar und zweifellos geläufig sind und auch in der Forschung der empirischen Wissenschaften überall zu Grunde gelegt und verwendet werden, bilden sie selbst das eigentliche Arbeitsmaterial der Philosophie.
In der Art dieser Bearbeitung nun liegt der tiefste Unterschied zwischen der dogmatischen Philosophie[cj] und der kritischen[ck], wie sie durch Kant begründet worden ist. Erst durch Kant nämlich ist die Aufgabe der Philosophie erkannt worden, einerseits das System dieser „Stammbegriffe“ der menschlichen Erkenntnißthätigkeit als solcher zu entwickeln, andrerseits ihre Fähigkeit zur Erklärung der Erfahrungswelt kritisch zu untersuchen, und darin wesentlich besteht jene Verwandlung der Metaphysik in Erkenntnißtheorie, welche als das Hauptverdienst Kant’s mit Recht angesehen wird. Von jenen beiden durch Kant gesetzten Aufgaben hat dann die Identitätsphilosophie hauptsächlich die erste verfolgt, während in der Untersuchung des Verhältnisses jener Stammbegriffe zur Erfahrung Herbart[cl] die kritische Philosophie fortgesetzt hat. Vor Kant dagegen wurde diese zweite Aufgabe so gut wie garnicht gesehen, sondern die dogmatische Philosophie – und eben darin bestand ihr dogmatischer Character – nahm die Giltigkeit[cm] dieser „ursprünglichen Begriffe“ als „ewiger Wahrheiten“ ganz ebenso unkritisch, wie das gemeine Bewußtsein auf und suchte nur dieselben durch Operationen des „reinen Denkens“ derartig mit einander zu combiniren, daß eine Gesammterklärung der Erfahrungswelt dadurch resultiren sollte. Denn nichts anderes als dieser Versuch einer umfassenden und einheitlichen Erklärung aller Thatsachen des Erfahrungswissens durch reine Begriffsentwickelung ist das Wesen aller Metaphysik der nachkantischen sogut wie der vorkantischen. Sie sucht das System der aus der Natur des menschlichen Denkens folgenden Voraussetzungen über das Seiende, aber sie untersucht dieselben nicht, und sie weiß nicht, daß es eben nur zu prüfende Voraussetzungen sind, sondern sie hält sie unbesehen für „ewige Wahrheiten“ und für ausreichende Erklärungen der gesammten Wirklichkeit. Sie besteht daher, ohne es selbst zu wissen, nur aus Hypothesen,[cn] und indem sie diese für Gewißheiten, ja sogar für die Träger aller Gewißheit ansieht, baut sie ihr System in die Luft.[co]
Zu diesem Fehler des metaphysischen Verfahrens kommt ein zweiter, der schon oben berührt wurde. In dem energischen[cp] Scharfsinn und dem grübelnden Tiefsinn rein begrifflicher Construction liegt eine verlockende Kraft, welche |[cq] das wissenschaftliche Denken bei sich allein festzuhalten droht. Und wird dieser Verführung nicht widerstanden, so stellt sich bald eine folgenschwere Täuschung ein. Je länger und je einseitiger man sich mit den begrifflichen Verhältnissen dieser metaphysischen Voraussetzungen beschäftigt und je mehr man in Folge dessen vergißt, daß es nur Voraussetzungen sind, um so mehr nehmen diese Begriffe, welche[cr] nur[cs] als die primitivsten und allgemeinsten Erklärungsversuche der erfahrenen Wirklichkeit Sinn haben[ct], in den Augen des Denkers den Werth von Thatsachen seines Wissens an[cu]: und so entspringt[cv] die Vorstellung einer Welt, die hinter derjenigen der Erfahrung steht und aus der die letztere „erklärt“ werden müsse, die Vorstellung, einer Welt von Dingen-an-sich, welche aller Metaphysik den characteristischen Stempel aufdrückt. In die Betrachtung dieser „höheren Welt“ versunken, fühlt sich das philosophische Denken über die empirischen Wissenschaften erhoben und es verliert damit mehr und mehr jenes thatsächliche Wissen aus den Augen, zu dessen Erklärung es ursprünglich angestellt wurde: Es beginnt nicht nur, dies thatsächliche Wissen zu unterschätzen und zu vernachlässigen, sondern fühlt sich sogar stark genug, da wo es mit demselben in Conflict geräth, für sich selbst die größere Zuverlässigkeit und Gewißheit in Anspruch zu nehmen.
Dieser Gegensatz[cw] zwischen dem empirischen Wissen und dem metaphysischen Denken, tritt wie alle großen und bedeutenden Verhältnisse des wissenschaftlichen Lebens mit klaren und schroffen Zügen im Anfange der griechischen Philosophie hervor: als die ersten Metaphysiker Griechenlands durch die scharfsinnige Durchdenkung elementarer Erklärungsbegriffe, wie derjenigen des Werdens und des Seins sich zu Ansichten gedrängt sahen, welche mit dem Erfahrungswissen in offenem Widerspruche standen, wurden sie zuerst auf Unterschied und Gegensatz beider Erkenntnißweisen aufmerksam, und mit dem jugendlichen Uebermuthe des eben erst in sich erstarkten abstracten Denkens verwarfen, so weit sie auch sonst in ihren Meinungen auseinander gehen mochten, doch Heraclit[cx] und Parmenides[cy] gleichmäßig das aus der Erfahrung entspringende[cz] Wissen als Trug und Thorheit. Seitdem ist der Gegensatz gemildert, aber nicht aufgehoben noch versöhnt worden, und nur in der Entwickelung des Kantischen Kriticismus dürfte eine Hoffnung dafür erwachsen, deren genauere Darstellung hier nicht am Platze ist. Die „Erklärung der Welt“, welche die Metaphysik gesucht hat, sollte von ihr stets aus jenen Grundvoraussetzungen des menschlichen Intellects hergeleitet werden, ohne daß sie sich die Mühe gegeben hätte, diese zu erklärende Welt zunächst selbst zu studiren und in einem kritisch durchsichteten Wissen sich den Boden zu schaffen. Es genügte den Metaphysikern, meist ganz oberflächliche Erfahrung von Welt und Leben, die dem gewöhnlichen Bewußtsein ihrer Zeit geläufig war, und ein flüchtiger Schaum, den sie[da]
Kommentar zum Textbefund
b↑Windelband | ] gegenüber auf der Umschlaginnenseite Inventarstempel; Bl. 1v Besitzstempel der Tohoku und ergänzender Text zur Einfügung, Bl. 2r oben links ein weiterer Stempel über 3 Zeilen des Textes, Fortsetzung des Textesk↑Zustande ] danach Fußnotenzeichen und -text: Ich habe diese Ueberzeugung bereits in meiner Züricher Antrittsvorlesung: „Ueber den gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung“ (Leipzig, Verlag von Breitkopf u[nd] Härtel 1876) ausgesprochen und jetzt einige der dort formulirten Sätze unverändert, wo es mir passend schien, in den Text dieses Werkes aufgenommen.ak↑noch | ] Bl. 9v ergänzender Text zur Einfügung, Bl. 10r Fortsetzung des Textes, paginiert mit rotem Farbstift als 2al↑man ] danach Fußnotenzeichen und -text: vgl. Lotze’s allgemeine Mahnung am Schlusse seiner Logik (1874) p. 597.am↑weniger sollte man zu einer Zeit ] Einfügung auf Bl. 9v statt gestrichen: mehr sollte man einer allgemeinen Mahnung Lotze’s folgend, danach gestrichen: weniger sollte man zu einer Zeit,ao↑Entwickelung, | ] Bl. 10v leer, Bl. 11r Fortsetzung des Textes, paginiert mit rotem Farbstift als 3bb↑überhaupt ] danach Fußnotenzeichen und-text: Um seine Darstellung hat sich namentlich C[arl] Göring im zweiten Bande seines „System der kritischen Philosophie“ (Leipzig 1875) verdient gemacht.bp↑unternahm. | ] Bl. 14v ergänzender Text zur Einfügung, Bl. 15r Fortsetzung des Textes, paginiert mit rotem Farbstift als 7bx↑früh| ] Bl. 15v ergänzender Text zur Einfügung, Bl. 16r Fortsetzung des Textes, paginiert mit rotem Farbstift als 8ce↑übergehen. | ] Bl. 16v ergänzender Text zur Einfügung, Bl. 17r Fortsetzung des Textes, paginiert mit rotem Farbstift als 9cf↑zeigt ] folgt Fußnotenzeichen und -text: Und weil es selbst Gegenstand wichtiger psychologischer Untersuchungen sein muß.cu↑an ] folgt Fußnotenzeichen und -text: Man wird hier in rein historisch-psychologischem Ausdruck den Grundzug der kantischen Kategorienlehre wiederfinden, worauf dieselbe zwar für alle Erfahrung, aber noch nur für diese gelten und niemals selbst ein gegenständliches Erkennen erzeugen können, – zugleich aber auch jene negative kritische Consequenz für die Lehre vom Dinge an sich, welche Kant niemals ausdrücklich anerkannt hat. Vgl. des Verfassers Abhandlung, „Ueber die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding an sich“, in „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“, herausgegeben von R. Avenarius, I. Jahrgang, Heft 2, pag. 224ff., besonders pag. 253.da↑sie ] bricht ab, Bl. 18v leer, Ende des Heftes. Direkte Fortsetzung des Textes durch Heft Nr. 12.Kommentar der Herausgeber
1↑Nr. 8 ] Erstabdruck in: Horst Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Das Fach Philosophie und die Wissenschaft Psychologie im Deutschen Kaiserreich, 2017, S. 457–476 (open access: http://heiup.uni-heidelberg.de/heiup/catalog/book/203). Hier eigene Transkription.3↑Hypothese des Unbewußten ] vgl. die spätere Arbeit Windelbands: Die Hypothese des Unbewußten. Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24. April 1914. Heidelberg: C. Winter 1914 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1914, 4. Abhandlung).4↑„großen Zermalmers“ ] Bezeichung Kants durch Moses Mendelssohn (Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, 1785).5↑„Idee … entlassen“ ] vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, 1807, z. B. Kapitel 93. Kein direktes Zitat.6↑wie … hat ] z. B. in Hermann Lotze: Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele, 1852, § 5.▲