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- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 20.12.1913, 4 S., hs. (lat. Schrift), Wasserzeichen HOFLIEFERANT | DIEFFENBACHER | HEIDELBERG, UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_100
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 20.12.1913, 4 S., hs. (lat. Schrift), Wasserzeichen HOFLIEFERANT | DIEFFENBACHER | HEIDELBERG, UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_100
Heidelberg, 20.12.13
Lieber Freund und Kollege,
Besten Dank für Ihre geschwinde, ausführliche und liebenswürdige Antwort: insbesondere bin ich Ihnen verbunden für die Möglichkeit, die Sie Ebbinghaus eröffnen[1]; ich werde ganz vorsichtig, Ihrer Formulierung gemäss ihm schreiben und ihm raten, sich bei Ihnen persönlich vorzustellen. Gestern besuchte mich Medicus, der ihm persönlich sehr nahe steht, von dem Hallenser Missgeschick unterrichtet und darüber entrüstet war und auch keinen besseren Ausweg für ihn wusste als den Besuch bei Ihnen. Denn, was in Strassburg wird, kann man doch nicht wissen, so hoffnungsvoll es ja aussieht. Was das jüdische Blut anlangt, so können Sie darüber, glaube ich, beruhigt sein. Der Vater[2] war eine rein germanische Erscheinung; bei der Mutter, einer feinen, zarten, brünetten Frau wäre die Beimischung eines Tropfens | von Semitismus vielleicht nicht absolut ausgeschlossen; aber ich sage mir das erst jetzt, wo ich die Erinnerung eigens darauf prüfe. Bei der Begegnung selbst ist mir nichts aufgefallen, so wenig wie ja bei dem Sohne selbst.
Was Witkop anlangt[3], so bin ich allerdings überrascht über Ihre Stellung zu dem Buche[4]: und es ist mir nun doch beinah peinlich, dass ich den persönlichen Rücksichten das Opfer gebracht habe, meine Auffassung nicht in die Sache hineinziehen zu lassen. Es würde ja freilich absolut nichts geholfen haben, und ich möchte um keinen Preis etwa im geringsten daran schuld sein, falls die Regierung, wie Sie andeuten, den Ihnen allen so wenig sympathischen Mann in die Fakultät setzten sollte, – was ich sehr falsch fände. Was aber den Gegensatz der Beurteilungen anlangt, der natürlich brieflich nicht auszutragen ist, so gehöre ich eben – wie Dilthey | – noch jener Generation an, der es gefiel aesthetischen Inhalt auch zu aesthetischer Form herausgearbeitet zu sehen, wenn nur ehrliche Arbeit am Objekt darin steckt, auch ohne dass man die Nähte daran zu sehen braucht. Aber das gilt ja wohl nicht mehr für „Wissenschaft“ und gehört zum alten Eisen. Lassen wir das also auf sich beruhen; es ist mir jetzt um so mehr wert, dass Sie wenigstens wissen, wie ich in dieser Frage einen nicht ganz leichten Pflichtenkonflikt entschieden habe.
Sehr gefreut hat es mich, wie Sie über die Möglichkeit denken, Jon[as] Cohn für ein hiesiges Extraordinariat (das wir übrigens noch nicht sicher haben!) der Psychologie und Paedagogik in Aussicht zu nehmen[5]. Das wäre ja selbstverständlich die weitaus beste und mir die in jeder Hinsicht liebste Lösung der Frage. Es ist nur ein Haken dabei. Wie sich die Sache hier gespielt hat, speciell auch mit Rücksicht auf Häberlin, so wird diese Professur wegen der andern 8 Philosophiedocenten[6] nur bei ihrem | völligen Abschluss von der philosophischen Lehr[a]tätigkeit durchzuführen sein: d. h. ihr Vertreter müsste darauf ausdrücklich verzichten. Und in dieser Hinsicht habe ich in der Kommission erklärt, einen solchen Verzicht könne man zwar Häberlin, aber nicht J. Cohn zumuten. Damals freilich meinte Lask, er halte das doch nicht für völlig ausgeschlossen: was meinen Sie dazu? Jedenfalls muss die Sache sehr delikat angefasst werden.
Was das Wertesystem betrifft[7], so deute ich heute nur kurz an: ich leugne ja, dass es eigentlich religiöse Werte inhaltlich giebt (und meine „Einleitung“ bringt das noch viel schärfer heraus als die Praeludien[8]), weil die so|genannten nur die andern Werte in der Färbung des Uebersinnlichen sind: ich kann daher am wenigsten zwei Gebiete rel[igiöser] Werte annehmen, sehe vielmehr gerade in Ihrer Unterscheidung pantheistischer und theister Werte nur eine Bestätigung davon, dass es wiederum dieselben ethisch-logisch-aesthetischen Werte sind nur in zwei verschiedenen überempirischen Färbungen, einer immanenten und einer transcendenten. Dies ein Hauptpunkt! ein ander Mal mehr. Heut nur eilig herzlichen Feriengruss! Treulich Ihr
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑dem Buche ] vermutlich Philipp Witkops Habilitationsschrift: Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik. Leipzig: Teubner 1908 bzw. der 2. Bd. von dessen Die neuere deutsche Lyrik, 1913.5↑in Aussicht zu nehmen ] vgl. Max Weber an Heinrich Rickert vom 23.2.1914: Windelband hat die Chancen Jonas Cohn’s sofort in höchst kluger aber illoyaler Weise kontrekarriert. Zunächst durch Extrahierung eines Briefs des Dezernenten, welcher dessen „Transferierung“ für „unmöglich“ erklärte, da er schon von Freiburg aus vorgeschlagen sei, dann (in der Commission) durch die Erklärung: Sie hätten ihm (W[indelband]) „verschwiegen“, daß dies geschehen sei – was natürlich einen unangenehmen Eindruck machte (Gefälligkeits-Vorschlag!) (Max Weber Gesamtausgabe Abt. II, Bd. 8, S. 524). Jonas Cohn war seit 1901 ao. Prof. in Freiburg, 1919 dort o. Prof., 1933 nach England emigiriert (NDB).7↑Was das Wertesystem betrifft ] Rickerts Aufsatz in Logos 4 (1913), Heft 3, vgl. Windelband an Rickert vom 16.12.19138↑„Einleitung“ bringt das noch viel schärfer heraus als die Praeludien ] vgl. Windelband: Einleitung in die Philosophie. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1914, S. 390–435: Drittes Kapitel, Religiöse Probleme; sowie Windelband: Das Heilige. In: Präludien seit 2. Aufl. 1903.▲