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- TitlePaul Häberlin an Windelband, Binningen, 29.8.1913, 14 S., hs. (z. T. in Kurzschrift System Stolze), Briefentwurf, UB Basel, NL 119: Beilage zu 10,1790,3 (Fotokopie davon zusätzlich unter NL 119: 9,90,1)
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Paul Häberlin an Windelband, Binningen, 29.8.1913, 14 S., hs. (z. T. in Kurzschrift System Stolze[1]), Briefentwurf, UB Basel, NL 119: Beilage zu 10,1790,3 (Fotokopie davon zusätzlich unter NL 119: 9,90,1)
Binningen[2], 29. Aug[ust] 13.
Hochverehrter Herr Geheimrat,
Entschuldigen Sie bitte die Verspätung meiner Antwort;[a] die ersten Tage nach Empfang Ihres Briefes[3] bin ich nicht zum Schreiben gekommen, und[b] dann habe ich mir eine Zeitlang überlegt, ob ich nicht zu Ihnen in den Schwarzwald fahren sollte. Am liebsten hätte ich so getan, weil ich weiss, dass ich mich mündlich besser und mit weniger Gefahr, missverstanden zu werden, hätte aussprechen können. Aber ich wollte nicht Ihre Ferienruhe stören, und[c] dann dachte ich, dass Ihnen mit einer schriftlichen Antwort wohl besser gedient sei. |
Ich habe die Kämpfe um das humanistische Gymnasium in Deutschland, speziell allerdings in Preussen, etwa seit 1900 einigermassen verfolgt, ohne indessen behaupten zu können, dass ich in allen Einzelfragen orientiert wäre oder ein fertiges Urteil hätte. Dazu würde mehr Erfahrung an Ort und Stelle gehören. Immerhin glaube ich mir über die Haupt-Gegensätze und[d] ihre Gründe oder Motive klar zu sein; sie sind ja auch nicht wesentlich anders bei uns | wie in Deutschland. Die Mittelschulfrage stammt wohl[e] zuletzt aus zwei verschiedenen und[f] doch wieder zusammenhängenden Gründen, denen zwei Gegensatzpaare der Stellungnahme entsprechen. Einmal aus der Doppelaufgabe, welche heute der Mittelschule überhaupt zugeteilt ist. | Sie soll Bildungs[g]anstalt und[h] doch auch zugleich „Berufsschule“ bzw.[i] Vorbereitungsanstalt für spezielle Berufsstudien sein; die Wichtigkeit der einen oder and[eren] Aufgabe wird aber von Verschiedenen verschieden eingeschätzt. Wenn man nun zugibt, dass die Schule sich keiner der beiden Aufgaben entziehen darf, so meine ich doch, man müsste gerade heute wieder die Bildungs-Aufgabe besonders stark betonen. In die andre, die Nützlichkeits-[j]Richtung treibt der moderne Geist schon mehr als genug, und[k] wir müssen die Schule eher vor | der Gefahr der zu frühen und[l] zu starken „Utilisierung“ als vor dem Gegenteil schützen. Man wird angesichts der Anforderungen des mod[ernen] Lebens nichts gegen das Bestehen mehr „realistischer“ Mittelschulen einwenden können[m].
Aber man wird mindestens ebensowenig der Idee des humanistischen Gymnasiums, sofern es neben der „gelehrten“ Berufsvorbereitung, eben gerade wesentlich Bildungsschule im intensiven Sinne sein will, die Berechtigung absprechen dürfen. | Man möchte im Gegenteil den realistischen Anstalten wesentlich wünschen, sie legten bei aller Berücksichtigung der zukünftigen Berufsanforderungen gerade auf das Bildungsmässige, das „Humanistische“ im besten Sinne, das Kulturelle, mehr Gewicht.[n] |
Dies freilich führt auf die zweite, tiefer liegende Quelle der bestehenden Gegensätze: das verschiedene Bildungs- und[o] Kulturideal. Einem mehr ökonomisch-technisiert orientierten[p], auf das „Fortkommen“ und[q] Vorwärtskommen[r] (nicht nur des Einzelnen) und[s] die Beherrschung der gegebenen | Mittel gerichtete Ideal[t] steht das im tiefern Sinne kulturelle Ideal gegenüber, das normativ bestimmt ist und[u] in erster Linie ethische, aesthetische, logische Vertiefung will. Ich brauche Ihnen von diesem Gegensatz nicht ausführlicher zu sprechen, noch davon, wie wichtig er für die ganze Kultur eines Volkes ist. Ebensowenig brauche ich wohl besonders | zu betonen, dass ich persönlich mich unbedingt auf die zweite Seite stelle (NB. ohne die techn[ischen] Fähigkeiten[v] gering zu schätzen). – Tatsache ist aber, dass das humanist[ische] Gymnasium seiner Idee nach für diesen[w] Bildungsbegriff[x] eintritt. Darin bestand bisher und[y] besteht noch sein Adel und[z] seine Mission, gerade auch in der heutigen Zeit. Dieser Charakter muss dem Gymn[asium] erhalten bleiben, und[aa] die parallelen Anstalten sollten sich, so viel als immer möglich, darin dem Gymn[asium] anschliessen. Die Berufsvorbereitung[ab] braucht darunter nicht zu leiden. |
So weit wäre also alles klar, und[ac] ich meine, dies seien die wichtigsten Punkte. – Eine weitere Frage ist nun aber die, ob zur Erfüllung der angedeuteten Aufgabe das Gymnasium, wie es ist, durchaus die geeignete Beschaffenheit besitze, oder ob gerade[ad] in Anbetracht jener Mission Reformen angezeigt seien. Die Frage ist gewiss berechtigt,[ae] und[af] sofern die Reformdiskussionen auf dieser[ag] Grundlage stehen (was schon leider nicht immer der Fall ist), lässt sich gegen sie von vornherein[ah] sicherlich nichts einwenden. | In erster Linie handelt es sich hier um die Wichtigkeit (d. h. den besondern Bildungswert) der klassischen Sprachen. Dazu kann ich persönlich nur sagen, dass ein richtiges Studium dieser Sprachen und[ai] der dahinter stehenden und[aj] darin steckenden Kultur für mich nicht durch etwas andres ersetzt werden könnte. Dieses Studium ist, abgesehen von seiner Bedeutung[ak] für gelehrte Berufe, eines der hervorragendsten Mittel, das früher angedeutete Bildungsziel zu realisieren. Das Gymnasium kann sich freuen, | dieses Mittel zu besitzen; man sollte es ihm nicht nur nicht schmälern wollen, sond[ern] die andern Anstalten sollten, da sie es nach ihren besondern Zwecken nun einmal nicht haben können, ihrerseits darnach trachten, wenigstens einigermassenen Ersatz dafür zu schaffen. Wie das möglich wäre, das auszuführen gehört nicht hierher. Jedenfalls aber braucht die Berufsvorbildung, ebensowenig wie etwa die Pflege der Muttersprache darunter zu leiden. Das Gesagte gilt nicht nur für das Latein[ische], sond[ern] viell[eicht] noch mehr für das Griechische. Die klass[ischen] Studien dürfen ihrer Intensität nach nicht geschwächt werden am Gymn[asium]. Um so weniger, als ja gleichberechtigte Realsch[ulen,] Realgymn[asien] bestehen für Diejenigen, die sich diesen Studien mehr oder weniger entziehen wollen.
Es bleibt nun nur noch die Frage übrig, ob, alles Bisherige zugegeben, ein irgendwie reformiertes Gymnas[ium], (ohne Verminderung der Intensität der klass[ischen] Studien und[al] ohne Alternation des Sinnes der „humanist[ischen]“ Bildung[am]) eher seinen Wert erfüllen könnte als das „empirisch“ bestehende. In dieser Frage sind eine ganze Anzahl untergeordnete, technische Fragen eingeschlossen, über die man in guten Treuen verschiedener Meinung sein kann. Sie zu entscheiden, dazu gehört auf jeden Fall viel praktische Erfahrung. Es ist einzugestehen, dass ich mir darin, besond[ers] was deutsche Verhältnisse betrifft, keine volle Kompetenz und[an] kein endgültiges Urteil zutraue. Ich kenne das deutsche Gymnasialwesen[ao] zu wenig aus eigner Anschauung[ap]. Und die Schweizer Gymn[asien], die bestehen, sind nicht derart, dass ich einfach sie als Muster hinstellen könnte.
Allgemein aber hat mich die Erfahrung[aq] gelehrt, dass es nicht so sehr auf Institutionen und[ar] Schullehrerische[as] Verhältnisse ankommt, als eben auf den ganzen „Geist“ einer Bildungsanstalt und[at] vor allem auf die Art, die eigne Bedeutung[au] und[av] die psych[ologische] und[aw] päd[agogische] Befähigung[ax] der Lehrer.
Ich hoffe, hoch verehrter Herr Geheimrat, dass diese[ay] ungefähren Darlegungen Ihnen genügen[az]. Viell[eicht] haben Sie die Güte, mir kurz mitzuteilen[4], ob ich den Sinn Ihrer Anfrage einigermassen getroffen habe; sonst bin ich zu Ergänzungen[ba] gerne bereit.
Ihre freundlichen Grüsse erwidere ich herzlich. Empfehlung[bb] an Frau. Ich freue mich, dass Sie sich wohlfühlen und[bc] wünsche für Sie, dass das herrliche Wetter noch einige Zeit anhalten möge. Ihr sehr ergebener
P. H.[bd]
Kommentar zum Textbefund
a↑Antwort; ] danach gestr.: das schöne Wetter der letzten Tage hat mich zu einigen Ferien-Extravaganzen verlockt, obwohl ich eigentlich brav zu Hause bleiben wollte. Nun bin ich aber wieder hier + will Ihnen | ohne Verzug, so gut es in Kürze möglich ist, die gewünschte Antwort geben.e↑wohl ] danach gestr.: , wenn man von persönlichen + minderwertigen oder nebensächlichen Motiven in beiden streitenden Hauptparteien absieht,n↑Gewicht. ] danach gestr.: Nun sagen freilich die „Reformer“, die Freunde der mehr realistisch gerichteten Mittelschulen, dass auch in der Idee ihrer Anstalten die kulturelle Bildung eine | hervorragende Stellung einnehme. Aber sie haben (ich rede immer vom Durchschnitt + lasse Ausnahmen gerne gelten) einen andern Begriff von Bildung als die „Humanisten“, – +p↑ökonomisch-technisiert orientierten ] statt gestr.: realistisch-technisiert-„weltmännisch“ orientiertenae↑berechtigt, ] danach gestr.: wenn auch wohl die wenigsten Reformer ihre Reform gerade von diesem Gesichts|punkt aus wünschen und meinen.bd↑P. H. ] danach und zwischen den vorhergehenden Zeilen schwer leserlicher, teilweise gestrichener Text in z. T. Lang-, z. T. Kurzschrift (im Folgenden nicht eigens aufgelöst): die Ausführung und Begründung wäre natürlich eine weitläufige Sache. – | Zum letzten Punkt [danach eingeklammerter unleserlicher Text] möchte ich mir noch eine Bemerkung erlauben. Ich kann mir nicht recht vorstellen | [am Zeilenanfang nicht zugeordneter Text: *) übrig.] ich kann mir aber nicht recht denken, dass die Stellung gerade zu technischen Fragen | bei der Besetzung einer wiss[enschaftlichen] Lehrstelle für Psychol[ogie] und Päd[agogik] eine ausschlaggebende Rolle spielen kann.Kommentar der Herausgeber
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