Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Friedrich Meinecke, Heidelberg, 17.5.1913, 4 S., hs. (lat. Schrift), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA Nl Friedrich Meinecke Nr. 53, Brief 283
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationGeheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Windelband an Friedrich Meinecke, Heidelberg, 17.5.1913, 4 S., hs. (lat. Schrift), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA Nl Friedrich Meinecke Nr. 53, Brief 283
Heidelberg, 17.5.13.
Hochgeehrter Herr Kollege,
Es war sehr liebenswürdig von Ihnen und ich danke Ihnen herzlich dafür, dass Sie meines Geburtstages[1] mit der Zusendung des feinen Artikels über Stein[2] gedankt haben. Es hat mich sehr interessiert, wie Sie auch an ihm die Einflechtung geistiger Grösse in ein nicht ganz abzustreifendes Philistertum[3] aufzeigen, worin ja ein gut Stück unsres deutschen Nationalgeschickes steckt – und wovon jeder im Kleinen auch seine Lebenserfahrung zu machen hat. Eine Geschichte des Philistertums hat bisher nur der Dichter geschrieben – Jean Paul[4], aber sie ist zeitlos, und sie lässt die Genesis nur ahnen: erst eine Geschichte im eigensten Sinne würde erkennen | lassen, wieviel von diesem schicksalsmässigen Philistertum der Deutsche seiner eigensten Natur und wieviel den wechselnden Geschicken verdankt, die von aussen über ihn hereingebrochen sind. Vielleicht würde es in letzter Instanz auf eine Analyse des Verhältnisses des deutschen Nationalcharakters zum – Staat hinauslaufen.
Das Memento des 65tn Geburtstages galt für mich in verschiedner Richtung. Wär’ ich noch in Strassburg, so könnt’ ich mich wie Bresslau mit vollem Gehalt zur Ruhe setzen[5]. Schöne Strassburger Zeit! Graeca[6]! Wie liegt das hinter uns – weit schon als entschwundenes Glück. Und wie wehmutsvoll ruht der Blick darauf. Manchmal wurmt es mich fast; es ist mir dann, als sei ich eine der ersten von den Ratten gewesen, die das sinkende Schiff verliessen. – Und doch | sag’ ich mir dann, dass wir Ratten doch an dem Geschick nichts hätten ändern können und dass ich jetzt kreuzunglücklich wäre, wenn ich dort wäre und dies Unheil[7] miterleben müsste! dass solch ein Aerger doch auch die Leistungsfähigkeit auf die Dauer herabsetzen muss.
Freilich, die Leistungsfähigkeit zu mindern hatte Mutter Natur in diesem Alter auch andre Mittel. Das letzte Jahr hat mir daran trübe Erfahrung genug gebracht. Jetzt geht’s ja einmal wieder leidlich: ich habe nach sehr unglücklich verbrachten Ferien das Semester einigermassen erholt begonnen, und es geht gut. Freilich, der Anfang war ja diesmal besonders milde, und das dicke Ende kommt nach – 10 bis 11 Wochen hintereinander! Aber wenn ich sehr vorsichtig bin, viel Wasser in meinen Wein tue (in jedem Sinne des Worts!), dann mach’ ichs wohl noch eine Weile. Einiges würde ich gar zu gern noch fertig bringen, und drum empfinde ich es so | schmerzlich, dass ich meine Arbeit stark einschränken muss, – und Einiges möchte ich auch gar gern noch erleben. So vor allem wünschte ich, meinen Sohn Wolfgang auf gesicherter Bahn[8] zu sehen. Sie sind so freundlich gegen Ihn gewesen; dafür bin auch ich Ihnen dankbar; und Sie haben ihm den mir ganz einleuchtenden Rat gegeben, erst die Verwaltungsgeschichte Karl Friedrich’s[9] abzuschliessen, ehe er zur Habilitation[10] schreitet. Er hofft nun bald das Material bewältigt zu haben, das ja wohl unerwartet umfangreich ist. Für seine Arbeitsstimmung aber bitte ich Sie folgende Anfrage mir nicht zu verübeln. Es beunruhigt meinen Sohn, dass er auf die Zusendung seiner Vorarbeit[11] über den sog[enannten] Syndicatsprocess keine Antwort von Ihnen bekommen hat, während doch an keinem Urteil ihm so viel gelegen ist wie dem Ihrigen: ist es ungünstig, so möchte er um so mehr wissen, woran es fehlt und was er besser machen könnte, – wäre es günstig, so ginge er um so freudiger an die grössere Arbeit. Er zerbricht sich den Kopf, ob etwa entweder Ihre Antwort oder seine Zusendung auf der Post verloren gegangen sein kann. Sie sehen, ein Wort darüber wäre für ihn und auch für mich eine grosse Freude! und zürnen Sie nicht, wenn ich Sie darum bitte.
Mit herzlichen Grüssen von Haus zu Haus der Ihrige
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
2↑Artikels über Stein ] vgl. Friedrich Meinecke: Stein und die Erhebung von 1813. In: Der Kunstwart 26 (1913), Heft von Mai, S. 185–191.4↑Geschichte des Philistertums … Jean Paul ] Anspielung auf die Romanhelden Jean Paul Friedrich Richters5↑wie Bresslau mit vollem Gehalt zur Ruhe setzen ] ein Erfolg von Windelbands Straßburger Bleibeverhandlungen 1902, vgl. Windelband an Ulrich Stutz vom 23.6.1902. Harry Breslau wurde 1912 mit 65 emeritiert (NDB).7↑dies Unheil ] der doppelten philosophischen Vakanz an der Universität Straßburg nach Zieglers Emeritierung und dem Weggang Baeumkers. Erst 1914 wurde Simmel berufen (BEdPh).8↑Wolfgang auf gesicherter Bahn ] die Laufbahn von Wolfgang Windelband (1886–1945) gestaltete sich seit seiner Habilitation 1914/16 wie folgt: 1921 ao. Prof. Heidelberg, 1922 Lehrauftrag für neuere Staatenkunde und Politik an der Technischen Hochschule Darmstadt, 1925 o. Prof. für Mittlere und Neuere Geschichte in Königsberg. 1926 Ministerialrat im preußischen Unterrichtsministerium und Honorarprofessor der Universität Berlin. Seit 5.5.1933 o. Prof. in Berlin, seit 1.11.1935 in Halle. Noch im selben Monat aus „gesundheitlichen Gründen“ beurlaubt, 1936 von den amtlichen Verpflichtungen entbunden. 1942 für die Archivkommission des Auswärtigen Amtes in Paris tätig (Professorenkatalog Halle; https://www.lagis-hessen.de/pnd/117400149 (3.7.2018)).9↑Verwaltungsgeschichte Karl Friedrich’s ] vgl.: Die Verwaltung der Markgrafschaft Baden zur Zeit Karl Friedrichs. Hg. von der Badischen Historischen Kommission. Bearbeitet von Wolfgang Windelband. Leipzig: Quelle & Meyer 1916.10↑Habilitation ] vgl. Wolfgang Windelband: Badische Finanz- und Wirtschaftspolitik zur Zeit des Markgrafen Karl Friedrich. Erfurt: Ohlenroth 1916. Heidelberger Habilitationsschrift.11↑Vorarbeit ] vgl. Wolfgang Windelband: Staat und katholische Kirche in der Markgrafschaft Baden zur Zeit Karl Friedrich. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1912.▲