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- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 18.6.1911, 9 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_87-89
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 18.6.1911, 9 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_87-89
Heidelberg, 18 Juni 1911
Lieber Freund und Kollege,
Es ist schade, dass der Brief an Sie[1], von dem ich heute vor drei Wochen gerade fünf Zeilen geschrieben hatte, als ich unterbrochen wurde, damals nicht fertig werden konnte: er hätte Ihnen ungeteilt nur meinen herzlichen Dank für die Freude gebracht, die Sie mir durch Ihren Brief zu meinem Geburtstag[2] gemacht hatten. Für den freundlichen Ausdruck Ihrer Gesinnung war ich ja in diesem Jahre ganz besonders empfänglich; und ich freute mich Ihrer Berichte über den Fortgang Ihrer logischen Arbeiten. ich bin jetzt recht begierig auf Ihren Beitrag für das nächste Logos-Heft[3], insbesondre auch darauf, wie Sie darin etwa zu Lask Stellung nehmen werden. Mir ist dessen Buch[4], das übrigens ganz vorzüglich geschrieben ist, ausserordentlich interessant, wenn ich auch die Dreischichtung von Sinnlich, Uebersinnlich und Geltung nicht für aufrechthaltbar und die Durchführung von drei gesonderten Kategoriensystemen nicht für ausführbar halte: aber ich freue mich der Bewegung, die in die principiellen Probleme gekommen ist, in der Hoffnung, dass aus allen diesen Praeliminarien schliesslich doch einmal eine fertige Logik | herauskommen wird. Wie deren ganzes mir vorschwebt, werden Sie aus meinem Aufsatz für die „Encyclopaedie“[5] sehen, der nun hoffentlich bald druckfertig ist. Er hat ja, wie vieles Andre bei mir, darunter gelitten, dass ich Monate lang kaum mit halbem Dampf gearbeitet habe. Und es liegt so viel Unfertiges auf mir! und ich leide so unter den neuen Auflagen. Die antike Philosophie habe ich abgegeben, die bearbeitet jetzt Bonhöffer[6]; für die Praeludien, die völlig vergriffen[7] sind, stelle ich jetzt das neue Manuskript zusammen; von der Neueren Philosophie[8] korrigiere ich jetzt am 30. Bogen des I. Bandes, und ich will alles daran setzen, dass im Winter der Satz des dritten Bandes[9] beginnen kann. Davon fällt dann wohl der „Comte“[10] ab, und dann geht es an die Einleitung in die Philosophie[11]. Und erst dahinter steht leider die Logik[12], – wenn ich es dann nicht vorziehe, lieber erst an die Ethik[13] zu gehen. Denn ich habe – Gottseidank! – noch Einiges auf dem Herzen, und ich muss sehr sorgsam mit meiner Zeit umgehen. Denn nach der Erfahrung des vorigen Winters[14] muss ich anfangen, meine physischen Kräfte zu schonen, und das setzt meine Leistungsfähigkeit erheblich herab. ich arbeite Abends und nachts nicht mehr, und das war das halbe Leben „und die bessere Hälfte zwar“[15]. Im Uebrigen darf ich mit der Art, wie ich mich durch unerfreulich lange Schonung er|holt habe, namentlich auch jetzt wieder mit den Pfingstferien, die ich auf zwölf Tage ausgedehnt und mit bodenlosem Wetterglück auf Hundseck[16] zugebracht habe, ausserordentlich zufrieden sein. Freilich erkaufe ich das auch durch eine psychische Diät, die des Alterns würdig ist. Was mir die Aerzte hauptsächlich verbieten, ist jede Aufregung; ich darf mich nicht ärgern. Da nun die Menschen und die Dinge nicht aufhören, Aergernis zu bringen, so bleibt mir nur übrig, ihnen[a] die συγκατάϑεσις[17] zu verweigern und mich mit stoischer ἀπάϑεια[18] zu wappnen. In diesem hygienischen Sensus farciminitatis[19] habe ich es denn auch in diesem Frühjahr ziemlich weit gebracht, und ich hatte mehr als einen Anlass dazu, mich darin erfolgreich zu üben. Unter Anderm auch die Ruge-Weber-Angelegenheit[20]. In dieser bin ich mit einer spinozistischen Betrachtung[21] menschlicher Affekte und Leidenschaften „als ob“ sie Linien und Flächen wären, allmählich so weit gekommen, dass ich mich nur so weit darum kümmere, als ich dazu gezwungen werde, und dass ich z. B. auf die letzten Zuschriften von beiden Seiten, worauf ich doch nichts tun[b] konnte, nicht mehr geantwortet habe, um mir unnötige Erregung, die sich doch einstellen könnte zu ersparen. Ihnen aber, lieber Freund, schreibe ich natürlich darüber, schon aus dem Grunde, dass ich Ihnen in keiner Weise zürne, und dass Ihr Brief[22] mich zwar betrübt, aber ebensowenig verletzt | wie überrascht hat. ich habe es vorausgesehen, dass Sie wie Andre aus der leider nicht mehr zu heilenden Lage der Dinge die Konsequenz ziehen würden, den Rest von Beziehung, den Sie etwa noch zu R[uge] hatten, abzuschneiden. ich verstehe das vollständig, und ich verstehe auch dankbar Ihre Absicht, mich über Ihre Auffassung der Person und der Sache nicht im Zweifel zu lassen. Sie haben deshalb auch ein Recht, zu erfahren, weshalb ich (bei mancher Uebereinstimmung, in der Beurteilung des Einzelnen) Ihrer Auffassung im letzten Ergebnis nicht beitreten kann. Aber das zu begründen bedürfte es einer längeren Auseinandersetzung, als sie schriftlich möglich und mir zuträglich ist: ich muss mich begnügen, einige Hauptpunkte kurz zu bezeichnen, dabei aber bitten, ganz offen sein zu dürfen.
Der Anlass des Streits, das Rugeʼsche Inserat, war, zumal in der Form, eine unerhörte Torheit und Taktlosigkeit; darüber habe ich mich sofort R[uge] selbst und andern gegenüber auf das Schärfste geäussert. Aber die Psychologie dieser Entgleisung war nicht ganz einfach: gewiss war darin Grosstuerei, Skandalsucht, vielleicht selbst der bittere Cynismus, den das Leben in dem unglücklichen Menschen herangebildet hat: aber doch auch ein Stück ehrlicher Entrüstung. Er meinte, er müsse den Mut haben, den er bei andern vermisste, der weit und tiefgehenden Missstimmung Ausdruck zu geben, die in Heidelberg gegen das Treiben einzelner Frauenvereine tatsächlich besteht. Das war | natürlich Unsinn: er hatte nicht im geringsten Beruf dazu, umgekehrt war er mir verpflichtet, jeden öffentlichen Skandal zu vermeiden. Doch davon sehe ich hier ab: viel schlimmer war, was er sagte. Wir wollen nicht untersuchen, wieweit er sich sachlich vergriff, – genug, dass er in der Form (es ist nicht festzustellen, wieweit er sich dessen bewusst war) eine Rohheit beging, die ihm niemals hätte passieren dürfen. ich habe ihm sogleich gesagt, dass er, was auch geschehen möge, bei mir nicht Hilfe noch Rückhalt finden werde. Es kam denn auch, was vorauszusehen war: er musste sich öffentlich und namentlich stärkste Dinge sagen lassen, so deutlich und scharf, dass man juridisch die Beleidigungen für ausgeglichen ansehen konnte. Dann kam das zweite: das Einspringen Max Webers. Ob es nötig war, darüber gehen ja wohl die Ansichten auseinander: ich urteile darüber nicht; denn einem Manne, der sich in und mit seiner Frau beleidigt fühlt, soll man nicht hineinreden in das, was er zur Abwehr nötig findet. In diesem Stadium habe ich zu vermitteln versucht, nicht um Ruges willen und nicht um Webers willen, sondern wegen des der Universität drohenden Skandals, – freilich vermittelt ohne Hoffnung auf Erfolg und ohne Erfolg. Darauf kam die Klage. Es scheint mir, dass Sie darüber nicht genau unterrichtet sind, wenn ich Ihre Wendung richtig verstehe, Sie müssten es darauf ankommen lassen, dass R[uge] Ihnen „oeffentlich wie M[ax] W[eber] mit einer Klage – droht.“[23] Ruge hat die Klage | tatsächlich eingereicht, und er hat sie nur zurückgezogen unter dem Druck von Krehl, der mit Rücksicht auf meinen damaligen Gesundheitszustand eine Verhandlung, in die ich hätte hineingezogen werden müssen, durchaus vermieden haben wollte. Mir ist diese Tatsache, die ich selbst erst vor wenigen Wochen aus meinem Sohn[24] herausgefragt habe, ganz ausserordentlich peinlich. Ruge hat tatsächlich aus diesem Motive zurückgezogen, dabei Geld geopfert etc.: und es hat ja doch nichts geholfen! Den Vorgang werden Sie des Genaueren von M[ax] W[eber] erfahren: der meint zwar, R[uge] habe diese gute Gelegenheit zum Rückzug gern ergriffen, weil er die Enthüllungen fürchtete, mit denen W[eber] seine Behauptung der Unwürdigkeit R[uge]ʼs zum akademischen Lehramt substanziieren wollte. ich weiss nicht, ob er damit Recht hat. ich persönlich habe nicht den Eindruck, dass R[uge] sich vor Enthüllungen fürchtete: er sprach damals zu mir sehr unglücklich darüber, dass er „um des Ansehens der Universität willen“ (das gab man mir als Grund an) verzichten müsse. Und andrerseits, was M[ax] W[eber] in der Unterredung[25], die ich mit ihm hatte, und in der er kein Hehl daraus machte, dass er mit den rücksichtlosesten Enthüllungen vorgehen würde, – was er damals auf meine Frage | beispielsweise anführte, das ist ja alles recht unerquicklich, aber es ist doch durchaus unzulänglich, um jene Behauptung der Unwürdigkeit zu substanziieren. Da waren die Stänkereien mit der Freien Studentenschaft, die zu disciplinarischen Dingen geführt haben, da war die Horneffer-Affaire[26], wo R[uge] seine Kunst, sich da, wo er sachlich im Recht sein mag, formell ins Unrecht zu setzen, so glänzend bewies, dass er u. A. dem aus Bildungstigern[c] beiderlei Geschlechts bestehenden Publicum die Liebenswürdigkeit ins Gesicht warf, sie verstünden ja alle nichts davon, – da sollte ein Journalist behaupten, er habe dem R[uge] einmal Ohrfeigen angeboten – und solcher Klatsch vielleicht noch mehr. Sollte endlich M[ax] W[eber] den Zank um die Logos-Redaktion[27] hereinziehen wollen, so ist der ja durch die Erklärung, die beide Teile vor mir unterschrieben haben, formell durchaus erledigt: und moralisch ist R[uge] darin durch den Eindruck gedeckt, den seine ganze persönliche Haltung damals in der leidenschaftlichen Scene, die er Ihnen machte, auf Sie gemacht hat. Das Alles somit begründet, soweit ich sehe, jene schwere Beleidigung M[ax] W[eber]ʼs nicht in einer objektiven Weise. Und hierin liegt für mich der Schwerpunkt der gegenwärtigen Lage. Es würde gewissenlos von mir sein, wenn ich den Mann, der sich selbst wahrlich genug und in nicht wieder gut zu machender | Weise geschadet hat, jetzt von mir stiesse, ehe mir der Beweis erbracht ist, dass jene Behauptung seiner Unwürdigkeit objektiv begründet ist. Dazu bedarf es neuer, mir bisher nicht bekannter Tatsachen. Ob M[ax] W[eber] solche noch in petto hat, weiss ich nicht. Die gerichtliche Verhandlung würde es ja wohl erwiesen haben. Jetzt schien es, als ob die neueste Wendung, die durch die Einmischung des Vorstandes der Nicht-Ordinarien-Vereinigung herbeigeführt wurde, eine disciplinäre Untersuchung nach sich ziehen würde, sie ja dann auch wohl Klarheit schaffen müsste. Aber ganz neuerdings höre ich, das sei zweifelhaft geworden, weil jene Herren vom Vorstand sich doch nicht dazu verstehen, die Angelegenheit zur öffentlichen Verhandlung in dem Verein zu bringen. Sollte also schliesslich keine der bisher zu erwartenden Möglichkeiten amtlicher Feststellung eintreten, so bliebe nur übrig, mir auf privatem Wege mir darüber Klarheit zu verschaffen, ob denn wirklich gegen R[uge] noch andre, mir bisher unbekannte und begründete Beschuldigungen vorliegen, die M[ax] W[eber]s Behauptung rechtfertigen. Danach erst könnte ich meine Entscheidung treffen. Sie verstehen, dass ich eine amtliche – richterliche oder disciplinäre – Feststellung abwarten musste und dass ich es auch heute noch vorziehen würde, wenn ich | durch sie einer persönlichen Prüfung enthoben würde. Dass ich aber diese Enthüllungen abwarte, ist einfach eine Sache der Gerechtigkeit. Das werden Sie um so mehr zugeben, je höher Sie für R[uge] den Wert davon veranschlagen, dass er „bei mir noch verkehren darf.“[28] Diese Gerechtigkeit ist mein Grundmotiv: was hinzukommt, wird durch „Mitleid“ nicht ganz adaequat ausgedrückt. Es handelt sich um Individuelleres. ich habe mit vollem Bewusstsein den Versuch gemacht, einer Seele, die, vom Leben und von den Menschen ins Dunkel gestossen, leidenschaftlich emporrang, ins Klare und Feste zu helfen. ich wusste, dass ich von Niemand verlangen konnte, mir dabei zu helfen, und dass ich keinen schlimmeren Gegner dabei hatte, als ihn selbst. Es schien gelingen zu wollen, – und wenn er nun doch wieder sich selbst den schlimmsten Streich gespielt hat, so wäre es feig von mir, abstehen zu wollen, ehe es absolut moralisch nötig ist.
Doch es ist genug; die Wurschtigkeit hört doch schliesslich auf: ich glaube, es ist besser, ich schicke dies eingeschrieben; also erst morgen früh!
Aber immer mit derselben alten Gesinnung und herzlichem Gruss!
Der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑Beitrag für das nächste Logos-Heft ] vgl. Rickert: Das Eine, die Einheit und die Eins. In: Logos 2 (1911/12), Heft 1, S. 27–79. Enthält keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Lask.4↑dessen Buch ] vgl. Emil Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911 (eingegangen in: Gesammelte Schriften Bd. 2 1923, S. 1–282; vgl. dort S. 143–146 die Auseinandersetzung über den reflexiven Charakter der Kategorien). Ein Exemplar befand sich in Windelbands Besitz.5↑Aufsatz für die „Encyclopaedie“ ] vgl. Windelband: Die Prinzipien der Logik. In: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften. Hg. v. W. Windelband u. A. Ruge, 1. Bd. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1912, S. 1–60.6↑Bonhöffer ] vgl. Windelband: Geschichte der antiken Philosophie. 3. Aufl. bearb. v. Adolf Bonhöffer. München: C. H. Beck 1912 (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft in systematischer Darstellung mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen Disziplinen. In Verbindung mit … hg. v. Iwan Müller. Bd. 5, 1. Abt. , 1. Teil). Davon ein Exemplar in Windelbands Besitz.8↑Neueren Philosophie ] vgl. Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. 2 Bde. 5., durchgesehene Aufl. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1911.11↑Einleitung in die Philosophie ] vgl. Windelband: Einleitung in die Philosophie. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1914 (Grundriss der philosophischen Wissenschaften. In Verbindung mit Karl Joël, Erich Kaufmann, Eugen Kühnemann, Heinrich Maier, Adolfo Ravà, Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband und anderen Fachgenossen hg. v. Fritz Medicus).14↑Erfahrung des vorigen Winters ] womöglich eines Herzinfarktes, vgl. Windelband an Max Weber vom 12.12.1910 und den Kommentar zu Windelband an Hans Vaihinger vom 16.3.1911.19↑Sensus farciminitatis ] vgl. Meyers Konversations-Lexikon 1888: der von [Karl Gustav] Schwetschke in Küchenlatein übertragene scherzhafte Ausdruck Bismarcks: „Stimmung (oder Gefühl) gänzlicher Wurschtigkeit“ (d. h. Gleichgültigkeit), kommt zuerst 1853 in einem Brief Bismarcks an seine Schwester über den Frankfurter Bundestag vor (www.peter-hug.ch; 9.7.2018).21↑spinozistischen Betrachtung ] Anspielung auf Baruch de Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata, 1677.26↑Horneffer-Affaire ] 1909 war Ruge anläßlich eines Vortrages des Nietzsche-Forschers Ernst Horneffer (1871–1954) öffentlich ausfällig geworden. Die daran anschließend disziplinarisch durch die Universität ausgeprochene Rüge diente Ruge noch 1941 als Meilenstein in seiner nationalsozialistischen Broschüre: Einige Kampfdaten aus meinem Leben. Ein Rückblick an meinem 60. Geburtstag. Karlsruhe 1941.▲