Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Vossler, Heidelberg, 17.7.1909, 6 S., hs. (lat. Schrift), Wasserzeichen R. DIEFFENBACHER, Bayerische Staatsbibliothek München, Nachlass Karl Vossler, Ana 350. 12. A. Windelband, Wilhelm
- Creator
- Recipient
- ParticipantsAnton Marty ; Bruno Bauch ; Emil Lask ; Ernst Cassirer ; Ernst Mach ; Fritz Medicus ; Georg Misch ; Georg Simmel ; Hans Cornelius ; Hans Vaihinger ; Heinrich Maier ; Hermann Ebbinghaus ; Hermann Schwarz ; Hermann Siebeck ; Immanuel Kant ; Johann Gottlieb Fichte ; Jonas Cohn ; Karl Bühler ; Karl Groos ; Karl Marbe ; Karl Vossler ; Kuno Fischer ; Martin Luther ; Oswald Külpe ; Paul Hensel ; Theodor Elsenhans ; Wilhelm Dilthey
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationBayerische Staatsbibliothek München
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Windelband an Karl Vossler, Heidelberg, 17.7.1909, 6 S., hs. (lat. Schrift), Wasserzeichen R. DIEFFENBACHER, Bayerische Staatsbibliothek München, Nachlass Karl Vossler, Ana 350. 12. A. Windelband, Wilhelm
Heidelberg, 17.7.09
Vertraulich[a]!
Hochgeehrter Herr Kollege,
Lassen Sie mich zunächst Ihnen herzlich danken für das ehrenvolle Vertrauen, dass Sie und Ihr Herren Kollegen in mich setzen: ich bedaure nur lebhaft den Anlass zu Ihrer Anfrage, und ich kann schwer begreifen, wie der von mir hochgeschätzte Kollege Külpe[1], der zwar aus der Psychophysik hervorgegangen; aber doch, wie seine letzten Schriften beweisen, nicht darin stecken geblieben ist, sich dazu hat bewegen lassen, durch seine Vorschläge einer vollständigen Auslieferung des philosophischen Katheders an die begrenzteste Psychophysik Vorschub zu leisten. Selbst die menschlich begreifliche Sorge um die leistungsfähige Erhaltung des von ihm in so stattlichem Umfang geschaffenen Instituts erklärt das nicht vollständig: und diesem Moment kann ja in der von Ihnen in Aussicht genommenen Weise[2] sachlich vollkommen ausreichende Rechnung getragen werden.
Dass Sie Sich gegen diese Vorschläge wehren, finde ich sehr gerechtfertigt und ebenso wacker wie nötig; und ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen dabei irgend behilflich sein kann: ich bitte nur gütigst zu entschuldigen, wenn ich mich in der | bedrängten Lage, worin mich gehäufte Aufgaben während des kurzen Intervalls zwischen den repräsentativen Wochen von Genf und Leipzig[3] versetzen, möglichst kurz zu fassen genötigt bin.
Dass Sie aus dem von Ihnen entwickelten Gründen in Ihre Vorschläge Cornelius[4] aufnehmen wollen, finde ich nicht nur taktisch richtig, sondern auch sachlich durchaus vertretbar. Er ist zwar Psychologist, und deshalb wie Sie wissen, mir nicht sympathisch: aber schon die auch von Ihnen hervorgehobene intellektuelle Abstammung von Mach[5] lässt ihn über die einseitige Experimentiererei hinausblicken und die grossen Probleme der Philosophie sehen, wie es nicht nur seine Psychologie, sondern auch seine Einleitung in die Philosophie[6] beweist. Dazu kommt, dass er eine eigenartige, aesthetisch zugespitzte Persönlichkeit ist und mit dieser, wenn nicht besondere Schwierigkeiten vorliegen, sicher einen Eindruck auf die Hörerschaft machen wird. ich weiss freilich von seinem Lehrerfolg | nichts, ich habe nur gehört, dass er auch in Halle[7] in Vorschlag war.
Neben ihm würde ich zunächst Bruno Bauch[8] nennen, den verdienstvollen Herausgeber der Kantstudien, einen vielseitig gebildeten, von edelster Hingabe an die Sache der Philosophie erfüllten Mann, dessen ethische und historische Arbeiten (z. B. Kant und Luther[9]) ihm einen anerkannten Platz unter der jüngeren Generation sichern. Er hat neben Elsenhans auf der Dresdener Liste gestanden; er soll mit seiner reinen, hochstrebenden Persönlichkeit einen sehr guten und starken Einfluss auf die Studentenschaft haben: Näheres darüber wird Ihnen gern der Schriftführer der Kant-Gesellschaft, Geheimer Regierungsrat[b] Prof. Dr. Vaihinger, Halle, Reichardstr. 15, zur Verfügung stellen.
In Ihrer[c] Nähe käme dann K[arl] Groos[10] in Giessen in Betracht, dessen literarische Tätigkeit sich hauptsächlich der Aesthetik zugewendet hat. Seine „Spiele der Tiere“[11] haben grossen Anklang gefunden, von seiner Art können Sie sich ausser der Einleitung in die Aesthetik[12] wohl ein Bild machen aus seiner | Behandlung der Aesthetik[13] in der von mir herausgegebenen Festschrift für Kuno Fischer. Mein Freund Herm[ann] Siebeck[14], neben dem G[roos] in Giessen wirkt, hat immer mit grosser Achtung von seinem Wissen, Wesen und Lehren gesprochen.
Diese drei würde ich nach meinen persönlichen Auffassungen und namentlich mit Rücksicht auf das für die Zukunft auch literarisch von ihnen zu Erwartende in der Folge rangieren, welche zufällig auch die alphabetische ist: Bauch, Cornelius, Groos. ich würde es aber auch völlig gerechtfertigt finden, wenn man, indem man bei Groos den Umstand, dass er schon der bewährte Ordinarius ist, und bei Cornelius die von Ihnen erwähnten Verhältnisse[15] betonte, eine andre Stellung vorzöge.
Sollte der eine oder der andre von diesen aus irgend welchen Gründen ganz zurückgestellt werden, so müsste man wohl zunächst an Elsenhans[16] denken (über den ich Ihnen[17] nichts Näheres zu sagen brauche) und an Heinrich Maier[18]-Tübingen denken, die beiden Schwaben, die zwar keine schöpferischen Denker und keine hinreissenden Redner, aber gediegene Leute mit einem tüchtigen Schulsack[d] sind. Beide stehen, wie Sie wissen, der Psychologie nahe und ihr doch freier gegenüber; und das empföhle sie vielleicht ebenso wie Cornelius und Groos zu der Stellung eines dem psychologischen Extraordinarius[19] übergeordneten Institutsdirectors.
Nachher kann ich, wenn Männer wie Simmel, Jonas Cohn, Cassirer und auch schliesslich Hensel und Lask nicht genehm sind, nur noch einen aus der jüngeren Generation nennen: Georg Misch[20], dessen ersten Band der Geschichte der Autobiographie[21] Sie gewiss kennen und anerkennen. Mir scheint es ein Buch, das nach dem ganzen Wust, nach der in grossen Zügen und doch mit feinsten Detail-Analysen durchgeführten Behandlung des neuen[e] Themas seinen Verfasser mit in die erste Reihe rückt. Von diesem selbst weiss ich nur, dass er Schüler und Schwiegersohn Wilhelm Dilthey’s ist; von confessionellen und persönlichen Beziehungen[22] ist mir nichts bekannt. Es wäre sachlich schade, wenn ihm so | etwas im Wege stünde.
Für diesen Fall müssten schliesslich noch Heinr. Schwarz[23]-Marburg, der Herausgeber der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, und Fritz Medicus[24]-Halle herangezogen werden. Der erstere hat etwas Unbestimmtes[f], Eklektisches und bisher nicht recht Fruchtbares in seiner fleissigen, meist auf ethische Gegenstände gerichteten Arbeit: der zweite hat ein tüchtiges Buch über Fichte[25] (13 Vorlesungen) geschrieben, und ist ein ausgesprochener Fichteaner mit mystisch-religiösem Einschlag.
Diese Ihren Wünschen hoffentlich etwas Brauchbares bietenden Urteile stelle ich Ihnen und Ihren Kollegen gern mit der Bitte zur Verfügung, ihren vertraulichen Charakter zu bewahren. Indem ich schliesse, will ich nicht vergessen, Ihnen für die Zusendung der vortrefflichen, in ihrer Knappheit höchst wirkungsvollen Rezension über Marty[26] meinen herzlichen Dank zu sagen. Mit verbindlichen Empfehlungen von Haus zu Haus aufrichtigst der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Külpe ] Oswald Külpe (1862–1915), seit 1894 o. Prof. in Würzburg mit Gründung eines Instituts für experimentelle Psychologie (1896), ging 1909 nach Bonn (BEdPh). Sein Nachfolger in Würzburg wurde Karl Marbe (1869–1953), seit 1905 o. Prof. an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften Frankfurt a. M. (NDB).3↑repräsentativen Wochen von Genf und Leipzig ] vgl. Windelband an Rickert vom 4.7.1909sowie Windelband an Franz Böhm vom 14.7.19094↑Cornelius ] Hans Cornelius (1863–1947), Chemiker und Philosoph, 1886 für Chemie promoviert, 1894 für Philosophie habilitiert, 1903 PD u. ao. Prof. in München, 1910 o. Prof. der Philosophie an der Akademie für Sozialwissenschaften in Frankfurt a. M. Veröffentlichte u. a.: Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 1897 (BEdPh).8↑Bruno Bauch ] 1877–1942, 1901 in Freiburg promoviert, 1903 in Halle habilitiert, ab 1911 o. Prof. in Jena, 1903–17 Redakteur der Kant-Studien (BEdPh).10↑Groos ] Karl Groos (1861–1946), in Heidelberg bei Kuno Fischer promoviert, 1889 in Gießen habilitiert, 1892 ao. Prof., 1898 o. Prof. in Basel, 1910 in Gießen, ab 1911 Vorlesungstätigkeit in Tübingen (BEdPh).13↑Behandlung der Aesthetik ] vgl. Groos: Ästhetik. In: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer unter Mitwirkung v. O. Liebmann, W. Wundt, Th. Lipps, B. Bauch, E. Lask, H. Rickert, E. Troeltsch, K. Groos hg. v. W. Windelband. 2., verbesserte u. um das Kapitel Naturphilosophie erweiterte Aufl. Heidelberg: C. Winter 1907, S. 487–528.14↑Siebeck ] Hermann Siebeck (1842–1920), seit 1883 o. Prof. in Gießen, zuvor in Basel (seit 1875; BEdPh).16↑Elsenhans ] Theodor Elsenhans (1862–1918), aus Stuttgart, 1902 in Heidelberg habilitiert, seit 1908 o. Prof. an der Technischen Hochschule Dresden (BEdPh).18↑Heinrich Maier ] 1867–1933, aus Heidenheim, seit 1902 o. Prof. in Tübingen, ab 1911 in Göttingen (BEdPh).19↑psychologischen Extraordinarius ] der bisherige, Karl Bühler (1879–1963), folgte Külpe nach Bonn (BEdPh).20↑Georg Misch ] 1878–1965, 1905 in Berlin habilitiert, ab 1911 ao. Prof. in Marburg, 1919 o. Prof. in Göttingen, 1939 emigriert, 1946 nach Göttingen zurückgekehrt (BEdPh).22↑confessionellen und persönlichen Beziehungen ] gemeint: zum Judentum. Misch stammte aus jüdischer Familie.23↑Heinr. Schwarz ] gemeint: Hermann Schwarz (1864–1951), seit 1908 ao. Prof. in Marburg, ab 1910 o. Prof. in Greifswald (BEdPh).24↑Fritz Medicus ] 1876–1956, 1910 in Halle habilitiert, ab 1911 o. Prof. an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (BEdPh).26↑Rezension über Marty ] vgl. Vosslers Besprechung: Marty, Ant.: Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Halle, 1908, Bd. 1. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abt. 52 (1909), S. 305–307.▲