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- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 14.1.1904, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_45
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Windelband an Heinrich Rickert, Heidelberg, 14.1.1904, 4 S., hs. (lat. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_45
Heidelberg, 14.1.04.
Lieber, werter Herr College,
Zu meiner grossen Freude höre ich von meiner Frau, dich sich z[ur] Z[eit] in Freiburg befindet und mich mit Nachrichten über Ihre Geschicke versehen hat, dass es jetzt Ihnen und ebenso Ihrer Frau Gemahlin und dem jungen Weltbürger[1] entschieden gut geht. Das ist eine grosse Beruhigung für mich, und damit fällt mir eine Sorge von der Seele, die mich in dieser Zeit schwer bedrückt hat. ich habe den herzlichen Anteil an Ihrem Leiden und an der unglücklichen Complication[2] genommen, die es in so akute Beziehung zu den kritischen Tagen in dem Zustande Ihrer Frau Gemahlin brachte. Möchte nun Alles gut weitergehen, Sie eine schnelle und gründliche | Reconvalescenz, Ihre Frau Gemahlin baldige Erholung und Ihr jüngster Sohn eine glückliche Entwicklung finden! ich wünsche es von ganzem Herzen!
Eben habe ich Ferdinand Schmidtʼs Dissertation über Fichte[3] erhalten und mit grossem Interesse angelesen: ich beglückwünsche Sie zu dem erfreulichen Kreise von Arbeiten, die aus Ihren Anregungen hervorgehen; ich verfolge jetzt diese zusammenhangenden Untersuchungen Ihres Seminars nicht ohne Neid. So günstig vielleicht im Verhältnis zu meiner sonst in diesen Semestern allerdings sehr gehäuften Arbeitslast der Ausfall oder die äusserste Beschränkung solcher Tätigkeit ist, so empfinde | ich es doch als einen ausgesprochenen Mangel, dass sie mir jetzt noch hier versagt ist, dass ich keinen regelmäßigen Zusammenhang mit den besseren Elementen der Zuhörerschaft, die ja auch hier vorhanden sind, habe, dass ich ihnen noch keine Arbeitsstätte zu bieten vermag, an der ich energisch auf sie einwirken kann. Das blosse Vorlesen halte ich nicht mehr aus, und ich muss bald Mittel und Wege finden, um über die starken persönlichen Schwierigkeiten hinaus zu dem mir zugesicherten Seminar[4] tatsächlich zu gelangen.
Wenn das Heft der Kantstudien zum 100t Todestage erscheint, hoffe ich Ihnen eine Art von programmatischen Artikel[5] zuzuschicken, auf dessen Aufnahme bei Ihnen ich sehr gespannt bin. Leider muss ich noch einen zweiten Aufsatz[a] | über Kant bei diesem Anlass reden und vielleicht drucken lassen, da unsre Universität am 12 Febr[uar][6] einen Actus veranstaltet und die Festrede[7] mir zufällt, weil Kuno Fischers Gesundheitszustand ihn ja leider völlig ausschliesst. Auch bei Zellerʼs 90. Geburtstage am 22. Jan[uar] werde ich unsre Universität in Stuttgart zu vertreten[8] haben.
Meine Arbeiten schreiten also langsamer fort, als ich wünschte und hoffte. Die Ausgabe der Urteilskraft[9] ist mir recht eine Kugel ans Bein; ich wolltʼ ich hättʼs abgelehnt.
Nun nochmals mit allen guten Wünschen und herzlichen Grüssen der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑jungen Weltbürger ] Rickerts Sohn Franz Rickert (1904–1991), Gold- u. Silberschmied, Prof. an der Akademie der Bildenden Künste München (NDB).2↑unglücklichen Complication ] Rickert war im Januar 1904 an einer Blinddarmentzündung erkrankt, die im Februar operiert wurde, so daß er erst im SS 1904 seiner Lehrverpflichtung wieder nachkommen konnte (UA Freiburg, B 38/283, Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Philosophie 1886–1913, Schreiben Rickerts vom 18.1., 29.1. u. 22.2.1904; vgl. Hermann Glockner: Heidelberger Bilderbuch. Erinnerungen. Bonn: Bouvier 1969, S. 17).3↑Ferdinand Schmidtʼs Dissertation über Fichte ] gemeint: Friedrich Alfred Schmid [Noerr] (1877–1969, zum Namenszusatz als Schriftsteller (nach einer Konditorei in Schmids Verwandschaft) vgl. Hermann Glockner: Heidelberger Bilderbuch. Erinnerungen. Bonn: Bouvier 1969, S. 50) mit dessen Freiburger Dissertation über Die Philosophie Fichtes mit Rücksicht auf die Frage nach der „Veränderten Lehre“, 1904 (im Buchhandel als: Fichtes Philosophie und das Problem ihrer inneren Einheit. (Die Frage nach der veränderten Lehre). Freiburg i. B.: Ragoczy 1904; beide im Umfang von 112 S.). 1905 in Heidelberg habilitiert, dort bis 1917 PD (1910–1917 a. o. Prof. für Philosophie und Ästhetik), danach freier Schriftsteller (Universität Heidelberg, Adreßbücher und Vorlesungsverzeichnisse: http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/quellenunihd.html; Wikipedia 10.4.2017).5↑Artikel ] vgl. Windelband: Nach hundert Jahren. In: Kant-Studien 9 (1904), S. 5–20, sowie in: Zu Kants Gedächtnis. Zwölf Festgaben zu seinem 100jährigen Todestage. Hg. v. H. Vaihinger u. B. Bauch.6↑am 12 Februar ] abends 7 Uhr, zum 100. Todestag Kants, vgl. die Ankündigung in: Heidelberger Zeitung, Nr. 25 vom 30.1.1904, Erstes Blatt, S. 4.7↑Festrede ] vgl. Windelband: Immanuel Kant und seine Weltanschauung. Gedenkrede zur Feier der 100. Wiederkehr seines Todestages, an der Universität Heidelberg. Heidelberg: C. Winter 1904.Berlin: Reuther & Reichard 1904, S. 5–20.8↑unsre Universität in Stuttgart zu vertreten ] vgl. den Bericht in: Chronik der Stadt Heidelberg für das Jahr 1904. 12. Jg., im Auftrag des Stadtrates bearbeitet v. August Thorbecke. Heidelberg: I. Hörning 1906, S. 68: Als am 29. Januar Professor Dr. Ed. Zeller in Stuttgart seinen 90. Geburtstag feierte, überbrachte Geheimerat Dr. Windelband die Glückwünsche der Universität, deren Lehrer Zeller von 1862–1872 gewesen war; am 12. Februar, dem 100. Todestag Kants, feierte sie das Andenken an den großen Philosophen durch einen Festakt, bei dem Geheimerat Dr. Windelband die Festrede hielt. Die Stuttgarter Ansprache Windelbands ist abgedruckt in: Vom neunzigsten Geburtstag Eduard Zellers 22. Januar 1904. Als Manuscript gedruckt Stuttgart: Felix Krais 1904, S. 13–15: Exzellenz, ich komme im Namen von Heidelberg. Der engere Senat als Vertreter der Universität und die philosophische Fakultät haben mich gleichmäßig durch den Auftrag geehrt, Ihnen an diesem Tage, der seinesgleichen nicht in der gelehrten Welt hat, die ehrfurchtsvollsten Glückwünsche darzubringen. Das Jahrzehnt, das Sie in Ihrem an Arbeit und Erfolg reichen Leben unserer Universität gewidmet haben, steht bei uns in dankbarem Gedenken, wenn auch unter den jetzigen Mitgliedern der philosophischen Fakultät keiner mehr ist, der die Ehre hatte, mit Ew. Exzellenz zusammenwirken: unser Senior ist Ihr Nachfolger im Lehramt, Exzellenz Kuno Fischer. Er würde gewiß als Ihr treuer Verehrer und Freund am liebsten heute an dieser Stelle stehen, wenn ihn nicht die beklagenswerte Ungunst seines körperlichen Befindens daran hinderte, die ihn in diesem Semester auch gezwungen hat, auf sein Liebstes, die Lehrtätigkeit, zu verzichten. So ist es mir, der ich berufen sein werde, die Tradition der philosophischen Lehre an unserer Universität fortzusetzen, | die Sie, Exzellenz, geschaffen haben und die Kuno Fischer aufrecht erhalten hat – so ist es mir zugefallen, heute bei Ihnen unsre Universität zu vertreten; und ich weiß es meinen Herrn Kollegen innigen Dank, daß sie mir so die Gelegenheit gegeben haben, Ihnen auch persönlich die Gefühle auszudrücken, mit denen ich diesen Tag begrüße. Sie haben, Exzellenz, der Nestor der deutschen Philosophie, die Generationen kommen und gehen sehen. Sie sind erwachsen mit der Hochflut der idealistischen Spekulation und haben, als sie an den religiösen Fragen auseinander ging, in jungen Jahren Ihr gewichtiges Wort in den Streit geworfen. Sie haben dann über die Zeit der Ebbe des philosophischen Interesses, die auf so viel Ueberschwang folgen mußte, Ihr Schiff mit wertvollem Inhalt sicher gesteuert; in Hegels historischer Leistung fanden Sie den bleibenden Wert seines Wirkens, und die Kühnheiten seiner Konstruktion korrigierten Sie durch die bewundernswerte Weite und Breite Ihrer Gelehrsamkeit ebenso wie durch die strenge Sicherheit Ihres forschenden Wirklichkeitssinnes. An dem würdigsten Gegenstande, an der Philosophie, deren Schüler wir immer alle bleiben, bewährten Sie diese vorbildliche Kraft Ihres Geistes und schufen daraus das Werk, das monumentale, das mit Ihrem Namen die Zeiten überdauern wird. Allein niemals sind Sie der trüben Meinung gewesen, daß die Philosophie aufhören solle und nur ihre Geschichte übrig bleibe. Sie waren einer der Ersten, die zu der Besonnenheit des kritischen Philosophierens zurückriefen und einem philosophielosen Geschlechte lehrten, was Kant ihm wieder werden sollte. Aber auch dabei bewahrte Sie ihr historisches Verständnis und Ihr eignes fachliches Denken davor, bei der Aengstlichkeit der kantischen Erkenntnistheorie stehen zu bleiben, und so waren Sie es, der von Anfang an zur Arbeit an der objektiven Ausgestaltung seiner Lehre aufrief und führend anleitete, die in den letzten Jahrzehnten siegreich vorgedrungen ist. So sind wir alle historisch und systematisch Ihre Schüler und Sie genießen die Freude, alle Keime, die Sie ausgesät haben, als lebenskräftige Triebe sich entfalten zu sehen. Und so gestatten Sie auch mir, daß ich die Gunst des Tages, der mich | persönlich zu Ihnen führt, auszunutzen wage, um Ihnen auszusprechen, wie auch ich allzeit bewundernd zu Ihnen aufgeschaut habe und Ihrer Führung gefolgt bin. Mit meinen Kollegen, mit der ganzen wissenschaftlichen Welt preise ich die Gunst des Geschicks, das Sie uns in einer unvergleichlichen Rüstigkeit der geistigen Arbeit bis auf den heutigen Tag erhalten hat, und ich kann nichts besseres wünschen, als daß es Ihnen noch weiterhin lange gegeben sei, aus Ihrer schaffensreichen und gedankenvollen Muße heraus uns den Mitgenuß an den Früchten eines unermüdlichen Forschens zu gönnen. Der Wiederhall dessen, was Sie uns gelehrt haben und noch lehren, klingt allüberall: mögen Sie überzeugt sein, daß es nirgends freudiger aufgenommen und treuer bewahrt wird als in Heidelberg.9↑Ausgabe der Urteilskraft ] vgl. Windelband an Wilhelm Dilthey vom 16.7.1902 sowie Windelband: Einleitung. Sachliche Erläuterungen. Lesarten [zur Kritik der Urteilskraft]. In: Kant’s Werke Bd. 5. Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Paul Natorp. Kritik der Urtheilskraft. Hg. v. W. Windelband. Berlin: Georg Reimer 1908 (Kant’s Gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1, Bd. 5), S. 512–527, 527–530, 530–543. 2. Abdruck Berlin: Georg Reimer 1913.▲