Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Harry Bresslau, Heidelberg, 9.5.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, Nachlass Bresslau
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Harry Bresslau, Heidelberg, 9.5.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, Nachlass Bresslau
Heidelberg Landfriedstr[aße] 14
9.5.03
Lieber Freund,
Es hätte nicht Ihres und Reitzensteins liebenswürdigen Frühschoppengrußes[1], der mich sehr erfreut hat und für den ich herzlich danke, bedurft, um mir heute, wo ich nach den sauren Tagen des Semesteranfangs[2] und der zahllosen Antrittsbesuche zum ersten Mal etwas aufatme, die Feder zum Briefe an Sie in die Hand zu drücken. Denn ich habe wie Strassburgs überhaupt, so besonders Ihrer sehr lebhaft gedacht, – zumal in den letzten Tagen, wo ich zu meiner großen Betrübnis vernommen habe, daß die Berliner Verhandlungen über die Sache der Monumenta[3] eine Wendung genommen hätten, wonach Sie Ihren Rücktritt nach Abwickelung der bereits begonnenen Arbeiten erklärt hätten. Ist das wirklich so? Es sollte mir herzlichst leid tun, – nicht nur | wegen der flagranten Schädigung der Monumenta, die das in schwerster Weise bedeuten würde, sondern wegen des[a] Verlustes, den Sie an dieser Ihnen lieb und gewohnt gewordenen Tätigkeit erlitten. Es wäre wieder einmal ein Beweis davon, wie die unseligen Einflüsse Berlin’s überall das Sachliche auf das Traurigste schädigen.
Ueberhaupt verfolge ich mit Schmerz die verfahrenen Dinge in Strassburg. Die Art, wie bei dem Bauernparlament die Kosten für die „Fakultät“[4] durchgesetzt worden sind,[b] natürlich mit ungerechtester Zurücksetzung des Thomas-Stifts, für die wenigstens im Plenum sich auch keine Stimme gerührt zu haben scheint, – das finde ich unerhört, selbst für elsaß-lothringische Zustände. Oder ist mein Eindruck falsch und übersehe ich in der Fr[ankfurter] Zeitung[c] irgend ein ausgleichendes und versöhnendes Moment?
Aber Sie werden von mir hören wollen. Es sind bisher gute, wenn auch noch nicht fertige Eindrücke; aber die Unterschiede sind stark, und wir müssen das Gefühl, im Neuen zu tasten, erst noch überwinden. Man kommt uns außerordentlich liebenswürdig entgegen, – Collegen wie Studenten, und mit dem Vorlesungsbesuch bin ich ganz unerwartet zufrieden: es scheint mir, daß ein längst angestautes Bedürfnis, insbesondre nach systematischer Philosophie und nach Einführung in die gegenwärtigen Probleme und Richtungen, in der Studentenschaft bei mir Befriedigung sucht, und so sehe ich bisher vertrauensvoll in die Zukunft meiner hiesigen Lehre.
Mein Sohn[5] ist von Marcks[6] sehr befriedigt, weniger von Hampe[7] bisher, bei dem er freilich nur eine einstündige Vorlesung über Friedrich II. hört. Er hat schon sonst für seine jungen Verhältnisse genug, bevölkert morgens | meine Logik – ich lese ja hier zu nachtsschlafender Zeit! von 8–9, bin aber bisher recht erbaut davon – und Nachmittags hört der Junge an vier Tagen 4–5 natürlicher Weise Kuno[8], dann 5–6 Marcks und 6–7 meine Philosophie des 19. Jahrh[underts]. So ein dreistündiges Aufpassen kommt ihm nach dem milden Pennal doch sehr spanisch vor[9]. So verzichtet er für dies Semester auch auf Jellinek’s Geschichte der politischen Theorien, die er übers Jahr jedenfalls hört.
Wann ich meine Absicht, nach Str[aßburg] zu kommen, ausführe, kann ich noch nicht sagen: ich säße gar gern wieder einmal am Beckehiesel[10] Tisch oder Sonntag Mittag in der „kleinen Fakultätssitzung“. Grüßen Sie doch bitte an beiden Tischen alle Herren herzlichst, – ich hab’s ja gesagt, und gewußt, so gut wird mir’s, fürcht’ ich, nicht wieder.
Den Ihrigen geht’s hoffentlich gut! Meine Frau und Tochter kommen vor allen Einrichtungsarbeiten noch nicht zur Besinnung; aber zumal meine Tochter[11] hat doch schon starke Anwandlungen von Heimweh nach Strassburg und ihrer Schule.
Mit herzlichstem Gruß von Haus zu Haus getreulich der Ihrige
W Windelband[d]
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑sauren Tagen des Semesteranfangs ] darunter die 7. Versammlung Deutscher Historiker zu Heidelberg vom 14.–18.4.1903 (Deutscher Historikertag) mit Windelband (Mitglied des Ortsauschusses) als Teilnehmer, vgl. den stenographisch aufgenommenenen Diskussionsbeitrag Windelbands zum Vortrag von Friedrich Gottl über die Grenzen der Geschichte vom 17.4.1903, nachmittags in: Bericht über die siebente Versammlung deutscher Historiker zu Heidelberg. 14. bis 18. April 1903. Erstattet von dem Bureau der Versammlung [Armin Tille]. Leipzig: Duncker & Humblot 1903, S. 39–40: Als philosophischer Gast habe ich bei dem feinsinnigen Vortrage ebenso wie bei der daran geknüpften Diskussion [die von Karl Lamprecht dominiert wurde] mit großer Freude das lebhafte Interesse betätigt gefunden, welches die Historiker selbst den methodologischen Fragen zuwenden, die gegenwärtig für unsre allgemeinen erkenntnistheoretischen Probleme die bedeutsamsten sind. In der Tat ist uns für die letzten Entscheidungen der theoretischen Philosophie nichts so wichtig wie die Einsicht in den fundamentalen Unterschied naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung: wenn alles wissenschaftliche Denken eine Auswahl und Bearbeitung von Tatsachen der Erfahrung darstellt, so sind die leitenden Prinzipien dieser Auswahl und Verknüpfung für die geschichtliche Forschung stets Werte, im engeren Sinne die sog. Kulturwerte. Dieser Gesichtspunkt ist allein geeignet, das Historische von dem Naturwissenschaftlichen eindeutig abzugrenzen; er allein erlaubt auch, die verschiedenen Richtungen des historischen Interesses und der verschiedenen Disziplinen der allgemeinen Geschichtswissenschaft reinlich von einander zu sondern. Indem wir dies von der Beobachtung der wirklichen historischen Arbeit aus zu verstehen suchen, laufen wir keine Gefahr, mit solcher „Metahistorik“ [Zitat nach Gottl] der Geschichtsforschung ins Handwerk zu pfuschen oder gar ihr Vorschriften machen zu wollen. Ein weiterer Bericht in: Heidelberger Zeitung, Nr. 90 vom 18.4.1903, Erstes Blatt, S. 2.3↑Sache der Monumenta ] Harry Bresslau war seit 9.5.1888 Mitglied der Central-Direktion der Monumenta Germaniae Historica mit Sitz in Berlin (seit 1875). Zu einem Rücktritt kam es 1903 nicht, der letzte Eintrag über ihn in den Sitzungsprotokollen der Direktion vom September 1919 teilt mit, daß Bresslau aus Altersgründen die Wahl zum Vorsitzenden nicht annehme (vgl. http://www.mgh-bibliothek.de/archiv/338/338-00004.htm u. http://www.mgh-bibliothek.de/archiv/338/338-00015.htm (29.8.2017)).4↑„Fakultät“ ] die katholisch-theologische der Universität Straßburg, vgl. Windelband an Kuno Fischer vom 15.7.1902.6↑Marcks ] Erich Marcks (1861–1938), Historiker, 1901 o. Prof. in Heidelberg, 1907 Hamburg (Wissenschaftliche Stiftungen), 1913 in München, 1922 in Berlin (NDB).11↑Tochter ] Dora Windelband, zum Zeitpunkt des Schreibens 27 Jahre alt. Im Schuldienst bzw. in Lehrerinnenausbildung; Näheres für Straßburg nicht ermittelt.▲