Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 23.2.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_44
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Windelband an Heinrich Rickert, Straßburg, 23.2.1903, 4 S., hs. (dt. Schrift), UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/heidhs2740IIIA-224_44
Strassburg iE. 23/2 03
Lieber Herr College
Es hat sich bei mir für die in Fr[eiburg] frei werdende katholische Professur[1] ein alter Schüler von mir in Erinnerung gebracht: Dr. Kahl[2]. Er war mein erster Promovendus hier, und vielleicht sind Sie ihm noch im Seminar begegnet. Er war ursprünglich Philologe, bestand dann auch das Staatsexamen, wurde Gymnasiallehrer und dann Seminarprofessor, jetzt Director des (kath[olischen]) Lehrer Seminars in Pfalzburg. Eine schnelle Carriere, die er zweifellos seiner Tüchtigkeit, daneben auch seiner Confession, etwas vielleicht auch persönlicher Beziehungen verdankt, da sein Vater[3], der jetzt pensionirt in Freiburg lebt, hier Schulrat (für Volksschulen) gewesen ist.
Dr. Kahl glaubt nun zu wissen, daß schon | bei der früheren Vacanz in Fr[eiburg] wenigstens von ihm die Rede gewesen sei, und er frägt an, ob er vielleicht jetzt mehr in Betracht kommen könne. In der Tat hat er dazu m. E. ebenso viel Anrecht wie die Dyroff und Uebinger. Auch er ist ja freilich kein großer Philosoph, sondern nur ein tüchtiger Arbeiter. Seine Dissertation über die Willenslehre bei Augustin, Duns Scotus und Descartes war eine sehr erfreuliche Arbeit; Sie haben sie vielleicht wegen der Beziehungen zur Urteilslehre einmal in der Hand gehabt. Nachher hat er noch eine Sammlung der Demokrit Fragmente begonnen, ist aber nicht über ein Gymnasialprogramm hinausgelangt, weil ihn die Lehrpraxis ganz in Anspruch nahm. Das | ist wenig an gelehrter Leistung, selbst für diesen Zweck: aber mit Uebingerʼs Sächelchen über den Cusaner[4] kann es Kahl, wie mir scheint, noch immer aufnehmen. Und als Persönlichkeit würde ich, der ich beide kenne, Kahl vorziehen. Er ist ein ruhiger und ernster, persönlich liebenswürdiger Mensch: er würde eigentlich wohl genau eine zweite Auflage von Dyroff sein: auch von ihm würde ich – nach seinem bisherigen Auftreten – heftiges und fanatisches Verfahren[a] nicht erwarten. Daß ich Sie neulich nicht auf ihn aufmerksam gemacht habe, kommt daher, daß ich bisher nicht daran dachte, er würde Lust zur akademischen Laufbahn haben. Er ist in guter Stellung, wird 4–5000 Mk. Gehalt und freie Wohnung in dem kleinen lothringischen Städtchen[5] haben. |
Da er sich nun aber an mich gewandt hat, so will ich Sie doch davon in Kenntnis setzen und, ohne Ihnen irgendwie vorgreifen zu wollen, nur sagen, daß ich ihn für entschieden besser als Uebinger halte. Er ist gescheidter und ein angenehmerer Mensch. – Sie würden mich verbinden, wenn Sie, nachdem Ihr Beschluß gefaßt ist, mich (soweit es angeht) in die Lage versetzten, dem Manne zu schreiben, ob daran zu denken ist.
Es war neulich leider nur ein sehr hastiges Wiedersehen[6], und ich bedaure, daß ich in der Eile nicht dazu gekommen bin, Ihnen noch manches Andre zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte; ich hoffe, der Sommer wird mir dazu einmal bessere Gelegenheit[7] geben. Inzwischen mit herzlichem Gruß der Ihrige
W Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑katholische Professur ] Nachfolge Adolf Dyroff, vgl. Windelband an Rickert vom 13.1.1903. Berufen wurde Johannes Uebinger.2↑Dr. Kahl ] Wilhelm Kahl (1864–1929, katholisch), Dissertation bei Windelband: Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustin, Duns Scotus und Descartes. Straßburg: Trübner 1886 (ohne Vita). Zunächst im Schuldienst, 1891 Seminarlehrer in Kolmar, 1894 Seminardirektor in Pfalzburg, 1903 Direktor des Lehrerinnenseminars Köln, 1909 Provinzialschulrat in Koblenz. Habilitation 1914 (Handelshochschule Köln), 1919 Honorarprofessor, 1922 o. Prof. für Pädagogik in Köln (WBIS). Weitere Veröffentlichungen: Cornelis Labeo (1888), Demokritstudien (1. Bd. 1889). Keine Erwähnung in den einschlägigen Akten UA Freiburg, B 38/131 Angelegenheiten der zweiten philosophischen Professur. Vgl. über ihn als Promovenden Windelbands: Paul Hensel. Sein Leben in seinen Briefen. Frankfurt a. M.: Societäts-Vlg. 1937 (identisch mit der Titelauflage Wolfenbüttel 1947), S. 411.4↑Uebingerʼs Sächelchen über den Cusaner ] Uebinger hatte u. a. veröffentlicht: Die Philosophie des Nicolaus Cusanus. Würzburg: Fleischmann 1880; Die Gotteslehre des Nikolaus Cusanus. Münster: Schöningh 1888; Die philosophischen Schriften des Nikolaus Cusanus (3 Artikel). In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 103 (1893); Zur Lebensgeschichte des Nikolaus Cusanus. In: Historisches Jahrbuch 14 (1893), S. 549–562; Die mathematischen Schriften des Nik. Cusanus. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 8 (1895), S. 301–317 u. 403–422, 9 (1896), S. 54–66 u. 391–410, 10 (1897), S. 144–159.6↑Wiedersehen ] genaues Datum nicht ermittelt, im Januar/Februar 1903, vgl. Windelband an Rickert vom 13.1.1903.▲