Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Karl Dilthey, Straßburg, 22.10.1902, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- u. UB Göttingen, Dilth. 141
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- Physical LocationNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
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Windelband an Karl Dilthey, Straßburg, 22.10.1902, 4 S., hs. (dt. Schrift), Niedersächsische Staats- u. UB Göttingen, Dilth. 141
Strassburg iE 22.10.02
Liebster Freund,
Es ist doch eigentlich zu ärgerlich, daß es wieder einmal nichts mit dem Treffen[1] war! so nahe bei einander, und wir kommen nicht zusammen! es tut mir immer noch leid; es war gerade eine Zeit, wo ich gar zu gern gerade mit Dir geredet hätte! Hoffentlich bist Du nun mit der schönen Luft da oben recht zufrieden gewesen und gestärkt heimgekehrt. Es waren ja auch herrliche Wochen, und wir sind selten so gründlich erholt gewesen wie von den Tagen in Chamonix. Wir hatten es auch nötig und haben es nun wieder nötig. Es sind unruhige Zeiten für uns, die Heidelberger Berufungsfrage, die mir lange Wochen schwankender Ueberlegung ließ, ehe sie ganz perfekt wurde, ist mir freilich zum Schluss sehr leicht zu entscheiden geworden. Denn während die Regirung mich Tübin|gen[2] gegenüber, wohin ich garnicht so ungern gegangen wäre, mit aller Gewalt hielt, während sie anfänglich das auch Heidelberg gegenüber zu erreichen „hoffte“, hieß es im entscheidenen Momente, damit könne man nicht conkurriren!! Es war sehr deutlich, daß inzwischen eine Situation eingetreten war, in der es offenbar opportun ist, wenn ich andern Leuten Platz mache[3]. Nun, da geht man eben und ist froh, aus den von der hohen Politik immer alterirten Verhältnissen in reinere und feinere Zustände zu entrinnen. Wir freuen uns auf Heidelberg. wir hoffen wieder spazieren gehen zu lernen, was hier unmöglich ist, und Ruhe zu haben. Mit Kuno Fischer[4] habe ich das einfachste Verhältnis: ich übernehme die ganze Professur, und er bekommt dadurch die Möglichkeit, nur noch zu lesen, was ihm paßt, Faust und anderes Literaturphilosophisches. |
Unbequem ist nur das lange Wintersemester, daß wir hier noch, dreiviertels schon abgelöst, zuzubringen haben. Meine Frau wird’s besser haben, sie wird zum großen Teil nicht hier sein. Sie ist jetzt schon in Freiburg[5], wo jeden Tag das dritte Kind erwartet wird, und über Neujahr wird sie aus analogem Anlaß nach Schöneberg-Berlin[6] gehen. So hause ich einsam mit Dora und unserm Jüngsten[7], dem Oberprimaner. Den Leutnant[8], der ja hier steht, aber in der Kaserne wohnen muß, sehen wir nur Sonntags und selten in der Woche. Da ist es gut, daß ich sehr viel zu tun habe, – nicht mit der Vorlesung, ich habe zum Glück nur ein vierstündiges Colleg[9], aber mit allerlei Sachen[10], alten und neuen, die ich gern vor Ostern[11] noch abschließen will, um in Heidelberg frei zu sein. Da möcht’ ich mich zuerst ganz der Vorlesungstätigkeit widmen können, | die ich doch auf einen etwas andern Ton stimmen muß als hier. Hoffentlich bin ich zu diesen Veränderungen der ganzen äußeren Lebensform und auch innerer Verhältnisse gerade eben noch nicht zu alt[12]! Noch ein paar Jahre, und es wäre dazu entschieden zu spät gewesen: jetzt aber will ich’s noch einmal wagen, obwol ich mich manchmal zweifelnd frage, wie’s ausgehen wird. Aber es hat ja wohl so sein sollen.
Nun sei so gut und schreib’ mir auch einmal wieder, wie’s Dir geht. Ich bin recht bös auf mich, daß ich so saumselig im Briefschreiben gewesen bin. Wenn wir besser im Connex gewesen wären, hätte solch ein Aneinandervorbeireisen nicht vorkommen können. Dora grüßt bestens. Ich bleibe mit herzlichster Freundschaft Dein
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
3↑andern Leuten Platz mache ] vgl. Hochschul-Nachrichten (Paul von Salvisberg) Heft 146/Nr. 2 von November 1902, S. 40: Zur Nachfolge Windelbands. Wie verlautet, soll die philosophische Fakultät beabsichtigen, für die durch den Fortgang von Prof. Windelband erledigte Philosophie-Professur einen Katholiken in Vorschlag zu bringen, worauf die Regierung um so bereitwilliger eingehen dürfte, als sie damit gewissen Wünschen der Katholiken Rechnung tragen könnte, womit auf die nach langer Vorbereitung und vielen Protesten schließlich 1902/03 erfolgte Eröffnung der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Strassburg angespielt wird. Nachfolger Windelbands wurde Clemens Baeumker (kath.). Im Hintergrund stand der Fall Martin Spahn, vgl. auch Windelband an Kuno Fischer vom 15.7.1902.4↑Kuno Fischer ] zum 1.4.1903 war Windelband zum o. Prof. an der Universität Heidelberg ernannt worden, zunächst neben Kuno Fischer, der erst im Oktober 1903 um Beurlaubung von seinen Amts- und Lehrverpflichtungen nachsuchte (vgl. Hochschul-Nachrichten (Paul von Salvisberg) Oktober 1903). Formell vom Lehramt zurückgetreten ist Fischer jedoch erst 1906 (Hugo Falkenheim: Kuno Fischer. In: Biographisches Jahrbuch/Deutscher Nekrolog Bd. 12, S. 269).9↑vierstündiges Colleg ] im WS 1902/03 bot Windelband an: Geschichte der neueren Philosophie; Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 11–12 Uhr; im philosophischen Seminar: Platon’s Phaidon; Donnerstag von 6–8 Uhr, privatissime und gratis.10↑allerlei Sachen ] vgl. Windelband an Paul Siebeck vom 21.9.1902 und an Breitkopf & Härtel vom 29.9.1902▲