Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Paul Siebeck, Straßburg, 28.1.1889, Text nach einer Transkription von Klaus Christian Köhnke, Umfang und Besonderheiten nicht bekannt, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Paul Siebeck, Straßburg, 28.1.1889, Text nach einer Transkription von Klaus Christian Köhnke[1], Umfang und Besonderheiten nicht bekannt, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488
Strassburg i E. 28.1.89[a]
Sehr verehrter Herr Siebeck,
Sei’n Sie mir nicht böse, daß Ihr freundlicher Neujahrbrief so gar lange hat auf Antwort warten müssen: wegen meiner Logik[2], die ja nothwendigerweise langsam nur fortschreiten kann und mit der ich eben doch sehr vorsichtig sein muß; wegen der Logik, dachte ich, würden Sie keine Sorge haben. Vor Ende des Jahres wird sie doch auf keinen Fall fertig, und wenn’s Ihnen dann nicht paßt, so verschlägt es mir auch nichts, noch ein paar Monate mit dem Druck zu warten. Und ich überlegte mir dabei immer wieder, ob ich Ihrem Wunsche in bezug auf ein Lehrbuch der Geschichte der Philosophie[3] doch irgendwie nachkommen könnte, ohne meinen beiden eigenen Büchern[4] und deren Verlegern eine thörichte und durch den Anstand verbotene Concurrenz zu machen.
Es ist schließlich nur eine einzige Möglichkeit, deren Gedanke mir vor etwa acht Tagen aufging, und mich seitdem fast ausschließlich beschäftigt hat: wir müssen eine gänzlich neue Art in der Behandlung des Gegenstandes wählen. Die bisherige Uebung an der im wesentlichen doch auch meine Bücher festhalten, liefert immer auch eine Geschichte mehr der Philosophen als der Philosophie[b]. Was es noch nicht giebt, ist eine solche Geschichte der Philosophie, d. h. eine Geschichte der Probleme, ihres pragmatischen Ursprungs, ihrer Lösungen und Lösungsversuche, ihrer Verschiebungen und Verzweigungen. Zwar habe ich auf diesen Gesichtspunkt schon in meinen bisherigen Behandlungen mehr Rücksicht genommen, als irgend ein Andrer seit Hegel (und irre ich nicht, so hat das wesentlichen Antheil an dem Beifall, den ich eben gefunden habe); aber man sollte ihn nun einmal rein herausstellen und schüfe damit wenigstens etwas, womit man sich sehen lassen könnte.
Es würden also die Männer und Männerchen, sowie ihre Lebensumstände und das eigentlich literarhistorische und textkritische Material nur auf das allerknappste und als Nebensache, vielleicht in kleinerem Druck behandelt, dagegen mit aller Genauigkeit und Schärfe die Probleme entwickelt und die Begriffe aufgezeigt werden, welche zu ihrer Lösung erzeugt worden sind[5]. Diese Leistungen der Philosophie sollen genau bestimmt und gewerthet werden. Es würde auf diese Weise kein literarhistorisches und spezifisch gelehrtes, sondern selbst ein philosophisches Buch. Es enthielte aber damit auch alles, was der gebildete Mensch an der Geschichte der Philosophie brauchen kann und aus ihr wissen soll – es enthielte (praktisch gesprochen, da es sich um ein Lehrbuch handelt) auch Alles, was vernünftigerweise in einem Examen über Philosophie von dem, der nicht Fachphilosoph ist, gefordert und gefragt werden kann.
Einen solchen Extract der Gesch[ichte] der Philosophie zu geben, halte ich mich für berechtigt: nachdem die früheren Darstellungen bewiesen haben, daß ich das Einzelne durcharbeitet habe, darf ich wohl in Anspruch nehmen, daß man mir auch bei dieser Behandlung aus der Vogelperspective traut, und brauche ich nicht zu fürchten, daß man darin nur eine freie Phantasie oder eine willkürliche Construction sieht.
Könnten Sie sich mit diesem Plane (der freilich Ihrer ursprünglichen Absicht[6] nicht ganz entsprechen dürfte) doch befreunden, so wäre er in verhältnißmäßig kurzer Zeit ausführbar. Denn das Material habe ich fast vollständig beisammen, nicht nur weil ich auf diesen Punct schon immer in den früheren Arbeiten aufmerksam war, sondern auch diese besonderen Studien, die ich bisher zu solchen Vorlesungen[7] wie „Hauptprobleme der theoretischen und der praktischen Philosophie“ ausgeschlachtet habe. Das Ganze würde ich in einem Format wie dem Beck’schen[8] auf 20–25 Bogen veranschlagen u. da ich per Woche etwa einen Bogen[9] sicher leisten kann, so könnte das Manuskript noch im Sommersemester fertig[10] werden.
Nun schreiben Sie mir aber, bitte, verehrter Herr, ganz offen, was Sie davon halten. Wenn es Sie von Ihrer Absicht zu weit abführt, so will ich Ihre Kreise damit durchaus nicht stören; dann lege ich den Plan auf später zurück, aber in der üblichen Weise ein Lehrbuch für Sie zu schreiben, bin ich meinen beiden Büchern und Verlegern gegenüber wirklich nicht im Stande.
Bei diesen Ueberlegungen – in Betracht der liebenswürdigen Voreingenommenheit, mit der Sie gerade von mir so ein Lehrbuch wünschen – zugleich aus besonderer Veranlassung – bin ich auch meinem älteren Plane[11] wieder näher getreten, den ich bei dieser Gelegenheit wenigstens, mit der Bitte um Discretion, erwähnen, aber nur ganz problematisch hinstellen will, weil ich ein paar Tage lang daran dachte, Ihnen denselben statt der Gesch[ichte] d[er] Philos[ophie] unterzuschieben. Da wäre ein Lehrbuch der philosophischen Propädeutik für den Unterricht auf den Gymnasien eines der nothwendigsten Desiderata. Wie oft werde ich von Lehrern, denen das plötzlich zufällt, befragt, was sie machen sollen! Und in der That weiß selten einer was d’raus zu machen, ein rechtes Lehrbuch giebt’s nicht, und so bleibt die Sache dürftig und langweilig. Da trag’ ich mich nun schon seit meiner Zürcher Zeit, wo der Nothstand mir sehr nahe trat, mit einem Gedanken: man könnte aus diesem Unterricht wirklich den organischen Abschluß der ganzen Gymnasialerziehung machen, wenn man ihn um den Begriff der Wissenschaft gruppirte, für die doch jene ganze Erziehung vorbilden soll. Aus der empirischen Psychologie ausgewählt, was aus dem Vorstellungs- und Willensleben erforderlich ist, um Wesen und Werth der Wissenschaft zu verstehen – formal Logik und Methodologie in allgemeinsten Umrissen, vielleicht Encyklopädie, um die Zusammengehörigkeit der Einzelwissenschaften dem Abiturienten fühlbar zu machen, – endlich eine kurze Uebersicht über die Geschichte der Philosophie, Hauptgegensätze der Weltanschauung und Wechsel der wissenschaftlichen Bewegung. Alles so behandelt, daß ein kurzer, klarer einfacher Text für den Schüler da wäre, während Anmerkungen dem Lehrer Beispiele und literarische Winke an die Hand gäben, letztere auf einen relativ kleinen Kreis von verbreiteteren Bücher möglichst beschränkt. Im Ganzen vielleicht 6–8 Bogen. Als Anfang eine Chrestomathie[c] philosophischer Originalstücke mit Noten zur Erleichterung der Interpretation. – Was halten Sie davon?
Und nun nochmals die Bitte, mein Zögern zu entschuldigen! Mögen diese Zeilen Sie wohl treffen! Wie ich höre, wollen auch Sie das schöne Freiburg verlassen[12] und in unser großes Centrum gravitiren: Glück auf!
Mit bestem Gruß in treuer Hochschätzung Ihr
Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Transkription von Klaus Christian Köhnke ] Kollation derzeit nicht möglich. Der Transkription liegt die Datei Manuskript: Windelband Briefe | herauszugeben von K. C. Köhnke | Ausdruck vom 1.3.2012 zugrunde, die den Herausgebern zur Verfügung steht. Ein Ausdruck dieser Datei befindet sich in öffentlichem Besitz (Universität Leipzig, Nachlass Klaus Christian Köhnke NL 330/3/1/2). Die Signatur des Originals ist mit Stichtag 14.5.2018 noch nicht bekannt. Laut telefonischer Auskunft von Roland Klein, Referat für Nachlässe und Autographen der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz vom 21.11. und 2.12.2016 ist die Erfassung des Nachlasses 488 (Verlagsarchiv Mohr-Siebeck) noch nicht abgeschlossen.2↑meiner Logik ] vgl. über diesen nicht in einer Monographie ausgeführten Plan erstmals Windelband an Jellinek vom 9.10.1888; sowie Windelband an Siebeck vom 30.1.1888, 11.6.1888, 10.3.1902, 7.7.1904, 31.7.1904, 5.10.1906; sowie letztmals Siebeck an Windelband am 21.10.1906, wo das Erscheinungsdatum Sommer/Herbst 1907 avisiert wird.3↑Lehrbuch der Geschichte der Philosophie ] vgl. Windelband: Geschichte der Philosophie. Freiburg i. B.: Akademische Verlagsbuchhandlung J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1892. Vorwort: Straßburg, im November 1891. Zunächst in drei Lieferungen: 1. u. 2. Lieferung (S. 1–256) 1890. Prospekt zur 1. Lieferung: Strassburg i. E., Herbst 1889. – 3. u. 4. Lieferung (VII u. S. 257–516) Freiburg i. B. 1892. Vorwort: Straßburg, im November 1891. Vgl. den Verlagsvertrag vom 15./17.9.1889, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488 B 1, 6, M. 1. Seit der 3. Aufl. (1903) u. d. T. Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (zu Lebzeiten Windelbands insgesamt 6 Aufl.).4↑beiden eigenen Büchern ] vgl. Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften. 2 Bde. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1878–80.5↑die … sind ] frühestes Auftreten der Formel, mit der Windelband sein Programm umriß, z. B. in der Einleitung seines späteren Lehrbuchs der Geschichte der Philosophie.6↑Ihrer ursprünglichen Absicht ] vgl. Windelband an Siebeck vom 7.3.1881 und an Glogau vom 22.7.18838↑Beck’schen ] bei Beck war erschienen Windelband: Geschichte der alten Philosophie. In: Geschichte der antiken Naturwissenschaft und Philosophie Bd. 5, Abt. 1. Nördlingen: C. H. Beck 1888, S. 115–337.10↑im Sommersemester fertig ] vgl. die Datierung des Prospekts zur 1. Lieferung: Strassburg i. E., Herbst 1889. Vgl. den Verlagsvertrag vom 15./17.9.1889, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488 B 1, 6, M. 112↑Freiburg verlassen ] der Verlagssitz der Firma Mohr (Siebeck) wurde 1899 von Freiburg zurück nach Tübingen verlegt.▲