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- TitleWindelband an Paul Siebeck, Straßburg, 30.1.1888, Text nach einer Transkription von Klaus Christian Köhnke, Umfang und Besonderheiten nicht bekannt, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Paul Siebeck, Straßburg, 30.1.1888, Text nach einer Transkription von Klaus Christian Köhnke[1], Umfang und Besonderheiten nicht bekannt, Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL 488
Strassburg i/E. 30.1.88[a]
Sehr verehrter Herr,
Entschuldigen Sie gütigst, daß ich Ihre freundlichen Briefe erst so spät beantworte, – ich bin diesen ganzen Monat hindurch recht vielfach in Anspruch genommen gewesen – U. a. auch durch den Druck meines Abrisses der Geschichte der alten Philosophie[2], den ich, wie Sie wissen, für Iwan Müller’s Handbuch der Klassischen Alterthumswissenschaft (Beck-Nördlingen) übernommen hatte; sie wird im Februar fertig. Und ich bekenne Ihnen, daß ich damit und mit dem 3. Bande der Geschichte der neueren Philosophie[3], welcher noch immer als ungelöste Verpflichtung steinartig auf meinem Herzen lastet, von der Historie so über und über genug habe, daß ich für’s Erste an eine Gesammtgeschichte noch nicht denken mag. Viel mehr liegt mir am Herzen die Logik, und ich bin nicht ohne Hoffnung, daß ich nach den großen Ferien dieses Jahres Ihnen den ersten ihrer zwei Bände (dem dann der andre bald folgen würde) anbieten kann. Vorher nicht; jedenfalls aber bitte ich, mich dafür auf das nächste Jahr vorzumerken. Der Logik würde ich möglichst bald die Ethik folgen lassen; vielleicht fassen sie sich als „System der Kritischen Philosophie“[4] zusammen.
Was meinen Collegen K.[5] anlangt, so setzen Sie mich in einige Verlegenheit, der ich nur durch das vollste Vertrauen in Ihre Diskretion entgehen kann. Persönlich kenne ich ihn wenig, er ist eine (ich glaube nicht nur gegen mich) scheue, zurückgezogene Persönlichkeit. Seine Promotionsschrift über die Causalität, die er noch als Dr. Benno Cohn herausgegeben hat (er ist NB. Wiener), ist nicht ohne Verdienst; seitdem hat er sich in einen verhältnißmäßig engen und entlegnen Kreis von Problemen eingesponnen, „Philosophie der Mathematik“, sehr schwierige und, wie ich gern eingestehe, mir fern liegende Dinge. Bei der Habilitation legte er ein Manuskript über „Grenzbegriffe“ vor, größtentheils auf ähnlichen Pfaden wandelnd, wobei mir, namentlich im allgemeinen philosophischen Sinne, wenig herauszukommen schien. Gründlich, zum Theil spitzfindig, grüblerisch – aber nicht schöpferisch und ohne die Fähigkeit, den Leser für die Sache warm zu machen. Wenn Sie sich über seine Art selbst orientiren wollen, so nehmen Sie gefälligst von den Artikeln Notiz, die er in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie (Avenarius) seit etwa 1½ Jahren über „Anschauung“ geschrieben hat: Sie werden daraus ein ziemlich deutliches Bild seiner Art gewinnen. Was er schreibt, wird (nach den bisherigen Proben) zunächst nur einen ebenso kleinen Kreis interessiren, wie seine Vorlesungen. Ob er sich zu breiterer Wirksamkeit entwickeln wird, ist mir sehr zweifelhaft; jedenfalls müßte er es über sich gewinnen, mehr liefern zu wollen, als die philosophischen Grundlagen der Mathematik und der Naturwissenschaft, womit er sich bisher abquält.
Empfangen Sie meine herzlichen Grüße und den Ausdruck der lebhaften Ergebenheit, mit der ich bleibe Ihr getreuer
Windelband.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Transkription von Klaus Christian Köhnke ] Kollation derzeit nicht möglich. Der Transkription liegt die Datei Manuskript: Windelband Briefe | herauszugeben von K. C. Köhnke | Ausdruck vom 1.3.2012 zugrunde, die den Herausgebern zur Verfügung steht. Ein Ausdruck dieser Datei befindet sich in öffentlichem Besitz (Universität Leipzig, Nachlass Klaus Christian Köhnke NL 330/3/1/2). Die Signatur des Originals ist mit Stichtag 14.5.2018 noch nicht bekannt. Laut telefonischer Auskunft von Roland Klein, Referat für Nachlässe und Autographen der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz vom 21.11. und 2.12.2016 ist die Erfassung des Nachlasses 488 (Verlagsarchiv Mohr-Siebeck) noch nicht abgeschlossen.2↑meines Abrisses der Geschichte der alten Philosophie ] vgl. Windelband: Geschichte der alten Philosophie. In: Geschichte der antiken Naturwissenschaft und Philosophie, bearbeitet v. Sigmund Günther u. W. Windelband. Nördlingen: C. H. Beck 1888 (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft in systematischer Darstellung mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen Disziplinen. In Verbindung mit … hg. v. Iwan Müller. Bd. 5, 1. Abt.), S. 115–337.3↑3. Bande der Geschichte der neueren Philosophie ] ein solcher erschien nicht; 2 Bde. des Werks bei Breitkopf & Härtel, Leipzig.4↑Logik … Philosophie“ ] dieses Projekt hat Windelband trotz einer Vielzahl von Anläufen und Plänen nicht bis zur Druckreife gebracht, vgl. erstmals Windelband an Jellinek vom 9.10.1888; sowie Windelband an Paul Siebeck vom 11.6.1888, 28.1.1889, 10.3.1902, 7.7.1904, 31.7.1904, 5.10.1906; sowie letztmals Siebeck an Windelband am 21.10.1906, wo das Erscheinungsdatum Sommer/Herbst 1907 avisiert wird. Kleinere Arbeiten aus dem Themenkreis erschienen: Logik. In: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer unter Mitwirkung v. B. Bauch, K. Groos, E. Lask, O. Liebmann, H. Rickert, E. Troeltsch, W. Wundt hg. v. W. Windelband. 1. Bd. Heidelberg: C. Winter 1904, S. 163–186 (2. Aufl. 1907); Die gegenwärtige Aufgabe der Logik und Erkenntnistheorie in Bezug auf Natur- und Kulturwissenschaft. In: Congrès international de Philosophie. IIme session tenue à Genève du 4 au 8 Septembre 1904. Rapports et comptes rendus. Publiés par les soins du Ed. Claparede. Avec 17 figures et 5 portraits hors texte. Genf: Henry Kündig 1905, S. 104–119; Die Prinzipien der Logik. In: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften. Hg. v. W. Windelband u. A. Ruge, 1. Bd. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1912, S. 1–60.5↑K. ] Windelbands Auskünfte beziehen sich auf Benno Kerry, zu dem seines frühen Todes wegen wenig bekannt ist: Benno Kerry, geb. 11.12.1858 in Wien als Benno Bertram Kohn (Namensänderung 1883, vgl. ADBR Strasbourg, 62 AL 3, Nr. 164: Kerry an Georg Gerland, Wien I, Walfischgasse 12, 8.2.1883: Da es vorkommen könnte, daß eine Anfrage nach dem Unterzeichneten an die verehrliche philosoph. Facultät der Universität Strassburg gelange, so theile ich hiermit mit, daß ich, der ich mit Diplom dieser Universität vom 1. August 1889 zum Dr. phil. promovirt wurde (Dissertation: Untersuchungen über das Causalproblem …) meinen damaligen Namen: Benno Kohn gemäß dem Erlasse der k. k. niederösterr. Statthalterei vom 31. Mai 1882 Z. 24260 in den Namen: Benno Kerry umgeändert habe – und zwar nach dem 1881 gemeinsam mit seinem Bruder Richard Kerry unternommenen Austritt aus dem Judentum, vgl. Anna L. Staudacher: „… meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“. 18 000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868–1914: Namen – Quellen – Daten. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2009, S. 314 u. 323). Seit Sommer 1877 studierte Benno Kerry an der Universität Straßburg Physiologie und Philosophie, u. a. bei Otto Liebmann und Ernst Laas (von Kerry auch eine Edition von Schriften aus Laas’ Nachlass, Wien 1887). Im Winter 1877/78 Wechsel nach Wien zu Franz Brentano. Promotion am 1.8.1881 in Straßburg mit der Schrift Untersuchungen über das Causalproblem auf dem Boden einer Kritik der einschlägigen Lehren J. St. Mills. Vorbereitung der Habilitation in Wien, im November 1884 Rückkehr nach Straßburg, um dort das Habilitationsverfahren einleiten zu lassen. Habilitation am 20.1.1885 mit der ungedruckt gebliebenen Schrift: Grundzüge einer Theorie der mathematischen und nicht-mathematischen Grenzbegriffe. Ein Beitrag zur Erkenntnistheorie. PD in Straßburg, nach dem Tode von Ernst Laas (25.7.1885) Assistent bei Windelband. Kerry verstarb am 20.5.1889 in Wien nach kurzer Krankheit, über deren Natur nichts Sicheres bekannt ist (vgl. die einzige biographische Arbeit: Volker Peckhaus: Benno Kerry. Bausteine zu seiner Biographie. In: History and Philosophy of Logic 15 (1994), S. 1–8). Kerry schrieb: Ueber Anschauung und ihre psychische Verarbeitung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 9 (1885), S. 4339–4493; 10 (1886), S. 419–467; 11 (1887), S. 53–116 u. S. 249–307; 13 (1889), S. 71–204 u. S. 392–419; 14 (1890), S. 317–153 sowie 15 (1891), S. 127–167. Vgl. Elisabeth Hensel (Hg.): Paul Hensel. Sein Leben in seinen Briefen. Frankfurt a.M.: Societäts-Vlg. 1937 (identisch mit der Titelauflage Wolfenbüttel 1947), S. 400: ich säumte nicht, bei Windelband anzufragen, ob er Habilitation in Straßburg für möglich hielte. Seine Antwort lautete dahin, daß bereits ein älterer und tüchtiger Privatdozent, Dr. Kerry, vorhanden sei, er mir also irgendwelche Aussicht auf eine evtl. Anstellung nicht geben könne, daß er sich aber freuen würde, wenn ich trotzdem nach Straßburg kommen wolle. So ging ich denn Ostern 1888 dorthin […].▲