Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Georg Jellinek, Straßburg, 22.3.1883, 8 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32
- Creator
- Recipient
- ParticipantsCamilla Jellinek ; Edwin Karl Rochus von Manteuffel ; Elsbeth Wichgraf ; Ernst Laas ; Friedrich Theodor Althoff ; Georg Friedrich Knapp ; Georg Jellinek ; Gerard Heymans ; Gustav Glogau ; Heinrich Rickert ; Immanuel Kant ; Johannes von Kries ; Karl Dilthey ; Otto Liebmann ; Paul Siebeck ; Richard Avenarius ; Victor Ehrenberg ; Wilhelm Dilthey
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationBundesarchiv Koblenz
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Windelband an Georg Jellinek, Straßburg, 22.3.1883, 8 S., hs. (dt. Schrift), Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Georg Jellinek, N 1136/32
Strassburg i/E. 22 März 1883
Lieber, alter Freund,
—[a]
Nach so langer Zeit – wieviel, wieviel haben wir uns zu berichten! Zunächst muß ich des Glücks gedenken, das Dir eine holde Gefährtin Deiner Zukunft beschert hat, muß Dir sagen, daß ich trotz alledem – mit treuem Freundesherzen dies Glück mitempfinde, und Dich bitten, Deiner lieben Braut[1] meine Huldigungen zu Füßen zu legen, wenn ich auch fürchten muß, daß sie mir sehr, sehr zürnt und mich für einen bösen Menschen hält – der ich nicht bin! Vielleicht aber übt gerade sie das weibliche Vorrecht der Milde und stimmt Dein Herz zum Vergessen der Nachlässigkeit meines Schreibens und all der Zufälle und Mißverständnisse, die sich daran geknüpft!
Mir hat das Schicksal wenig Ruhe gelassen in diesen Jahren; ich habe viel gelernt und viel erfahren. Das schöne Freiburger Idyll, das nun hinter uns liegt, ward zuletzt schon viel unterbrochen. Mit dem Vierteljahr in Paris[2] fing’s an! Welch eine Welt von historischer Größe und von gegenwärtiger Lebenskraft! Und nur | flüchtig doch konnt’ ich ihre Sprache erforschen – die ersten Wochen in Gesellschaft von Knapp[3], den ich damals von hier nachzog –, während ich die Tage über in den Bibliotheken hockte. Es galt dem französischen Kapitel meines dritten Bandes[4]: und ich werde, vielleicht noch in diesem Jahre, für das englische auch noch eine ähnliche Reise nach London[5] machen müssen. Damals hat sich (in wochenlanger geistiger Einsamkeit) viel in mir gestaltet, was erst langsam, aber, wie ich hoffe, stetig sich von mir als fertige Arbeit ablösen soll. Zunächst in allgemeiner Lebens- und Geschichtsauffassung: dort, wo die Probleme der modernen Geschichte und heutigen Gesellschaft aus jedem Stein sprechen und mit Händen zu greifen sind, da versteht man erst sich selbst, da lernt man klar erfassen, welches die Richtung ist, in der das individuelle Bewußtsein durch dieses Chaos sich den Weg suchen muß. So war mir Paris die werthvollste Ergänzung von Rom[6] – es war mir in vieler Hinsicht eindrucksvoller als Rom: vielleicht weil ich es reifer, vielleicht gerade weil ich es nach Rom betrat. Ich wünschte wohl, wir könnten einmal darüber reden! Denn schreiben läßt sich ja so etwas nicht. Nicht minder wichtig aber war die Zeit für meine philosophische Ueberzeugung: wie ich da die franz[ösische] Philos[ophie] des 19. Jahrhunderts durcharbeitete, – oh, da ist von mir abgefallen, was irgend von den positivistischen, empiristischen | Modetendenzen, was von dem Eindruck der Tagesstichworte in mir hängen geblieben war! Und ich habe meinen Grund gefunden: ganz klar befestigt ist mir die Ueberzeugung, die schon mein zweiter Band aussprach, daß die deutsche Philosophie als allseitige Ausführung des kantischen Gedankens den Höhepunct der modernen Denkbewegung bildet, und der ganze Sinn meines dritten Bandes (wenn er – wenn er nur bald fertig würde!) wird der sein, zu beweisen, daß die gegnerischen Tendenzen der franz[ösischen] und der engl[ischen] Philosophie, die jetzt auch bei uns nachgeahmt zu werden anfangen, Repristinationen der von Kant überwundenen Philos[ophie] des 18. Jahrhundert sind, die sich von ihren Vorbildern nur durch solche Züge unterscheiden, deren Genesis sich direct auf den Einfluß eben der von ihnen bekämpften kritischen Philosophie zurückführen läßt. Und neben diesem Historischen ging mir damals in gedankenvoller Einsamkeit ein theoretischer Gesichtspunct auf, der damit genau zusammenhängt und unter dem sich mir die Gedankenwelt des deutschen Kriticismus in einer Weise anordnet, daß mir der Gang meiner Arbeit nun für das ganze Leben fest vorgezeichnet ist. Eine Art Programm davon denke ich Dir noch im Sommer zuzuschicken.
Daß es nicht eher fertig geworden, daran ist die | hastige Bewegtheit meines äußeren Daseins schuld. Das durch jene pariser Reise verkürzte Sommersemester 81 war mir das liebste bisher aus meiner akademischen Thätigkeit: es war ein Kreis hochgebildeter, verständnißvoller Zuhörer, darunter der Holländer Heymans[7], der dir vielleicht in Deiner Literatur begegnet ist und der damals mit seiner später in der Vierteljahrsschrift von Avenarius erschienenen Schrift über die Methode der Ethik[8] bei mir promovirte. Dabei im Hause die Verlobung meiner Schwägerin. Nachher in den Herbstferien wieder ein Vierteljahr auf der Reise: erst an die See, dann zu Verwandten, Hochzeit[9] etc. etc. Im folgenden Winter viel Kinderkrankheit, Verwandtenverkehr! Dann zum Frühjahr und Anfang Sommer kam der Straßburger Ruf. Es war sehr schwer für uns, die Entscheidung zu finden. Freiburg ist ein reizendes Idyll, und es ist für uns eine Stätte hoher Freuden gewesen. In der aufstrebenden Universität hatte ich einen schönen Wirkungskreis, eine vortreffliche persönliche Position: wir hatten einen schönen Freundeskreis, wir genossen das herrliche Klima und die entzückende Umgebung mit vollen Zügen. Und hätt’ ich dableiben wollen, eine Fülle von äußerer Anerkennung wäre mir in den Schooß gefallen. Zudem ist Strassburg leicht eine Sackgasse: und das hab’ ich sogar schon in diesem Winter erfahren; denn der Ruf nach Breslau[10], wo | ich primo loco vorgeschlagen war, ist darum nicht an mich gekommen, weil der Kaiser resp. Manteuffel[11] mich hier nicht fortlassen wollte! Andrerseits aber gilt es aber doch noch immer als eine Art von großem Loos für uns, an die Reichsuniversität berufen zu werden, und ist dieser Ruf gewissermaßen gebieterisch. Hätt’ ich ihn abgelehnt, so hätt’ ich mir in Freiburg ein Erbbegräbniß kaufen können, und danach ist doch eben Freiburg auch nicht. Endlich aber – es gilt hier eine Mission zu erfüllen. Durch traurige Verhältnisse ist hier, in unserer Westmark, in der deutschen Reichsuniversität, die Philosophie von einem Positivisten niederen Ranges, Laas[12], occupirt worden, eine der trübsten akademischen Geschichten, und demgegenüber ist es nun die schwere Aufgabe, der sich Liebmann nicht auf die Dauer gewachsen gefühlt hat (und darum ist er zu allgemeinstem Staunen nach Jena gegangen), hier die großen Traditionen der deutschen Philosophie zur Geltung zu bringen. Diese Aufgabe ist sehr schwer, viel schwerer nach meiner jetzigen Einsicht, als ich sie mir vorgestellt habe: denn die Straßburger Studentenschaft ist – aus vielen Gründen – ganz andersartig als die der andern deutschen Universitäten: eine banausische Greisenhaf|tigkeit[b] waltet darin, die sehr schwer aufzurütteln sein wird. Indessen, wir alle, die wir hier leben, arbeiten ja nicht für den Moment, sondern für die nächste Generation. Freilich die öffentlichen Verhältnisse, mit denen man die Berührung nicht vermeiden kann, sind sehr complicirt und schwierig. Genug! es ist von Freiburg hierher eine sehr, sehr weite Reise. Aus dem Idyll in den verantwortungsvollsten Kampf, in scharfe, schneidende Luft! Aber es giebt eben auch etwas zu thun, das seinen hohen Werth hat!
Das nicht leichte Einleben in diese Verhältnisse complicirte sich nun in diesem Winter für mich durch die häuslichen Dinge, die soviel Zeit kosten und so viele so köstliche Freuden bringen! Meine liebe, gute Frau, mein Glück und mein Halt, hat auch diese Zeit trefflich überwunden: sie ist sehr wohl und grüßt Dich und unbekannter Weise Deine liebe Braut von Herzen. Unser Sigfrid ist ein Normalbub: ein fröhlicher, braver Kerl, der sich trefflich nährt, wenig Unruhe und unsägliche Freude macht. Um ihn bemühen sich mit spielerischer Sorgfalt die drei Schwestern, die Dir ihren bildlichen Besuch machen: Dora und Meta, sieben und sechs Jahre alt, die jetzt in eine Privatschule kom|men werden, nachdem sie bisher Lesen, Schreiben und[c] Rechnen bei ihrer Mama, Geographie, Anschauung etc. bei mir (nach sehr individueller Auswahl!) gelernt haben. Elsa, von der ich nur gerade noch ein Bild im Schwarzwälder Kostüm zur Hand habe, dreieinhalbjährig, ist ein flottes, durchtriebenes, schelmisch-übermüthiges Kind, ein Kind, das „Race“ hat, aber einmal schwer zu erziehen sein wird. Die beiden älteren sind lenksam, sinnig, lernbegierig: Dore fast zu verständig, aber sehr lebhaft, Meta zart, sehr schüchtern, etwas flüchtig in den geistigen Thätigkeiten.
So hab’ ich denn in diesen Jahren viel gelebt, viel erlebt, und – ich darf es sagen – viel gearbeitet: aber Nichts ist da, womit ich Deine lieben Zeugen fleißiger, schöpferischer Thätigkeit hätte beantworten können. Habe, liebster Freund, vielen Dank für Deine Schriften: so wenig ich von ihrem Detail verstehe, so innig freue ich mich[d] Deiner klaren, einsichtigen, scharf formulirenden, geistvoll zusammenfassenden Darstellung. Und was die Principien anlangt, in denen ich mitsprechen zu dürfen wünschen würde, so habe ich Deine Ansicht vom Recht als dem „ethischen Minimum“[13] völlig zu der meini|gen gemacht; und freue mich, in dem Hauptpuncte mit Dir ganz einig zu sein: ich habe in Fr[eiburg] Rechtsphilos[ophie] gelesen und lese nächsten Sommer hier „Ethik mit Einschluß der Rechtsphilos[ophie]“.[14] Propositio[15] daraus: „Recht ist das System von Normen, wodurch eine staatlich geordnete Gesellschaft vermöge ihres sittlichen Gesammtbewußtseins die unerläßlichen Anforderungen, welche sie an ihre Mitglieder stellt, in der Weise bestimmt, daß die staatliche Gewalt in zweifelhaften Fällen über ihre Anwendung entscheidet und dem Widerstande gegenüber ihre Durchführung vollzieht.“ Sehr langathmig! aber, wo viel gefragt worden ist, muß viel geantwortet werden!
Doch für heut genug! Du mußt schon verzeihen, daß die Hoffnung, unser geistiger Rapport sei trotz langer Unterbrechung doch leicht wiederherzustellen, mich zu so langem Geplauder verleitet hat! Hoffentlich schreibst Du mir auch bald einmal! Inzwischen bleibe der unveränderten, treuen Freundschaft versichert, mit der ich mich nenne Deinen alten
Windelband
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Vierteljahr in Paris ] vgl. darüber Windelband an Georg Jellinek vom 9.10.1880, an Paul Siebeck vom 7.3.1881, an Karl Dilthey vom 20.7.1881 und an Victor Ehrenberg vom 16.3.1883.3↑Knapp ] Georg Friedrich Knapp (1842–1926), Nationalökonom u. Statistiker,1874–1918 Prof. in Straßburg (NDB).4↑dritten Bandes ] der Geschichcte der neueren Philosophie bei Breitkopf u. Härtel; ein solcher erschien nicht.5↑Reise nach London ] kam womöglich nicht zustande. Im Frühjahr 1884 unternahm Windelband eine Reise nach Oxford, deren Daten nicht genau bekannt sind (Abreise ca. 8.3.1884), vgl. Windelband an Friedrich Theodor Althoff vom 18.10.1883 sowie an Gustav Glogau vom 6.3.1884.7↑Holländer Heymans ] vgl. Kant-Studien 8 (1903), S. 455: erwähnt Gerard Heymans (Leiden) als einen Schüler Windelbands und Rickerts.8↑Schrift über die Methode der Ethik ] Heymans promovierte 1881 in Freiburg bei Windelband mit einer Arbeit Zur Kritik des Utilismus. Davon erschien die Ausarbeitung Die Methode der Ethik. In: Vierteljahrschrift für Wissenschaftliche Philosophie 6 (1882), S. 74–86, 162–188 u. 434–473.9↑Hochzeit ] von Elsbeth Wichgraf u. Johannes von Kries am 6.10.1881 (https://www.janecke.name/gaeste/wichgraf-in-potsdam).10↑Ruf nach Breslau ] Windelband war als Nachfolger Wilhelm Diltheys, der nach Berlin berufen war, im Gespräch gewesen, vgl. Windelband an Friedrich Theodor Althoff vom 30.11.1882.11↑Manteuffel ] Edwin Karl Rochus Freiherr von Manteuffel (1809–1885), seit 1879 Reichsstatthalter von Elsaß-Lothringen (WBIS).12↑Positivisten niederen Ranges, Laas ] vgl. den literarischen Schlagabtausch, den sich Ernst Laas und Windelband als Straßburger Fachkollegen lieferten: Laas: Ueber teleologischen Kriticismus [=Rezension von: Windelband: Präludien 1884]. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 8 (1884), 1. Heft, S. 1-17; Windelband: Ueber den teleologischen Kriticismus. Zur Abwehr. In: Philosophische Monatshefte 20 (1884), 2. u. 3. Heft, S. 161–169.13↑Recht als dem „ethischen Minimum“ ] viel zitierte These aus Jellinek: Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe. Wien: Hölder 1878.14↑Freiburg … Rechtsphilosophie“. ] vgl. die Vorlesungsverzeichnisse Freiburg SS 1882: Rechtsphilosophie (im Zusammenhange mit den allgemeinen Principien der praktischen Philosophie), Dienstag und Mittwoch von 8–9 Uhr; Straßburg SS 1883: Ethik (mit Einschluss der Rechtsphilosophie); Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 9–10 Uhr.15↑Propositio ] es sind unter den 20 Ms.-Heften Windelbands im Besitz der Bibliothek der Tohoku Universität Sendai, Japan, zwei Hefte zur Rechtsphilosophie erhalten: Nr. 4. Mit eigenhändigem Titel: Grundlinien der Rechtsphilosophie. Windelband. Vorgetr. zuerst Freiburg, Sommer 1882. Heft mit Fadenheftung und Umschlag aus blauem Papier. Umfang: 48 S., davon beschrieben: 35. 1 beigelegtes, gefaltetes Bl. mit 4 beschriebenen S. Maße: 20,0 x 16,3 cm, Beilage (aufgeklappt): 33,3 x 21,0 cm. Nr. 5. Ohne Titel; Fortsetzung von Heft 4. 1. Zeile beginnt: 2. Cap. Die Momente des Rechtsbegriffs. Heft mit Fadenheftung und Umschlag aus blauem Papier. 48 S., davon beschrieben: 13 (überwiegend lediglich Paragraphenüberschriften), 1 beigelegtes, gefaltetes Bl. mit 2 beschriebenen S. Maße: 21,2 x 16,8 cm, Beilage (aufgeklappt): 22,4 x 14,0 cm. In diesem Heft Nr. 5 finden sich auf Bl. 16r die Sätze: Aus der Recapitulation aller dieser Momente ergiebt sich nun, mit Berücksichtigung des später noch zu betrachtenden Umstandes, daß alle Rechtsbestimmungen einer Gesellschaft sich zu einem Ganzen zusammenschließen, folgende, langathmige, aber dafür erschöpfende Definition: „Recht ist das System der Normen, durch welche eine staatlich geordnete Gesellschaft [danach gestr.: im Hinblick auf] die unerläßlichen Anforderungen, die sie vermöge ihres sittlichen Gesammtbewußtseins an die Individuen stellt, in der Weise bestimmt, daß die staatliche Gewalt dem Widerstande gegenüber ihre Durchführung erzwingt und in streitigen Fällen über ihre Anwendung entscheidet.“ Die Anführungszeichen markieren kein Zitat, sondern dienen der Hervorhebung, z. B. zum Diktat. Neben der auf diese Sätze folgenden nächsten Kapitelüberschrift ist die Datierung auf den 4.7.1882 notiert.▲