Bibliographic Metadata
- TitleWindelband an Victor Ehrenberg, Freiburg i. Br., 5.8.1878, 3 S., hs. (dt. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße
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Windelband an Victor Ehrenberg, Freiburg i. Br., 5.8.1878, 3 S., hs. (dt. Schrift), Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Potsdamer Straße, NL Ehrenberg acc. Darmst. 1924.138
Freiburg i B. 5 Aug[ust] 1878
Lieber, verehrter College und Freund,
denn ich hege zu Ihrem guten, Herzen so viel optimistisches Zutrauen, daß ich hoffe, wenigstens noch einen Schatten von Recht, Sie so zu nennen, nicht verscherzt zu haben. Freilich das Meinige hätte ich dazu gethan. Denn meine Schreibfaulheit ist unerhört, und daß ich Ihnen für die persönliche Empfehlung unseres liebenswürdigen Collegen Rümelin[1] nicht einmal gedankt habe, schreit geradezu zum Himmel! Das Einzige, was mich entschuldigt, ist Etwas, was nicht existirt: mein unsterbliches Werk[2]! und das entschuldigt mich eben dadurch, daß es noch immer nicht existirt. In der That bin ich in diesem Sommer, nachdem mir die Ferien durch eine abscheuliche Nervengrippe geraubt worden waren, ein geplagtes Thier gewesen und stehe nun endlich glücklich am Abschluß des „ersten Bandes“[3] so wie an demjenigen des Semesters – quasi re bene gestae[4]. Jetzt darf ich wieder etwas menschlicher werden und mir menschliche Genüsse gestatten. Bis dahin lag es wirklich wie Druck auf mir, daß ich meine Berufungen nach Zürich und Freiburg und nun auch noch die in diesem Sommer abgelehnte nach Erlangen[5] noch immer nicht gerechtfertigt hatte! Womit wahrlich – glauben Sie mir’s – nicht gemeint werden soll, daß ich nun überzeugt wäre, sie gerechtfertigt zu haben; – aber ich kann doch nun sagen, ich hab’s versucht. |
Und nun glauben Sie von mir einen Brief zu bekommen, – und bekommen doch keinen! Denn weßhalb soll ich Ihnen Langes und Breites von mir erzählen, da ich Sie ja doch in acht Tagen hier sehe[6]? Sie glauben nicht, wie ich mich gefreut habe, als mir vor einigen Tagen Rümelin[7] diese frohe Aussicht erweckte. Seit wir uns nicht gesehen und seit ich Ihnen nicht geschrieben habe, ist so unendlich viel geschehen und habe ich selbst namentlich so unendlich viel erlebt, daß ich, sollt’ ich zu erzählen anfangen, ein kleines Collegienheft zum Wenigsten für diesen Brief auslangen müßte. Und nun thun Sie mir aber auch den Gefallen, Ihre Reise so einzurichten, daß ich Ihnen nachher das ganze Collegienheft mündlich auskramen kann! Zwar kann ich Ihnen leider gerade jetzt kein Bett in meiner Wohnung anbieten; aber ich wohne zwei Häuser vom Hotel und wenn Sie hier sind, stehe ich den ganzen Tag zu Ihrer Verfügung – am liebsten die ganze Woche! Und denken Sie nur, welche verlockende Aussicht! Ich führe Ihnen zwei kleine Sprößlinge vor, die, wenn sie einen fremden Onkel sehen, bedingungslos heulen und bei Ihnen sicher die erste Ausnahme machen!
Aber ich will vor Allem auch von Ihnen hören! Denn das war die Strafe, die ich mir selbst zugezogen, daß ich davon, wie’s Ihnen ergangen und ergeht, herzlich wenig weiß. Daß er diese Lücke etwas ausfüllte, hat mir den Collegen Rümelin von Anfang an sehr lieb gemacht. Aber auch in ihm | selbst begrüße ich wie wir hier alle einen sehr gern gesehenen Genossen. Wir haben uns alle sehr gefreut, daß er vermöge des plötzlichen Zuschusses norddeutscher Juristen[8] hier einen so schönen Anfang seiner Lehrtätigkeit fand. Für mich ist er einer von den Collegen, mit dem man gern auch über das gewöhnliche Schwatzen hinaus über ernstere Dinge redet: er hat eine so schöne Frische des Eindringens und ein so lebendiges Interesse an dem Zusammenhange der Wissenschaften. Je einsamer man mit dem Alter wird, je mehr man in sich kriecht und die Fühlhörner einsteckt, um so wohlthuender ist eine solche neue Bekanntschaft, und ich wünsche nur, ich wäre in diesem Sommer nicht so absolut in mein Museum[9] gebannt gewesen, wie es wirklich der Fall war, dann hätte ich ihn mehr genießen können.
Meine augenblickliche Lectüre ist Jellinek’s Buch[10], das mich äußerst interessirt, und ich hoffe, viel mit Ihnen darüber zu reden! Auch darin freue ich mich herzlich Ihrer Herkunft: und so sende ich Ihnen mit den vorläufigen Grüßen meiner Frau ein herzliches, frohes Willkommen entgegen!
A und Ω aber dieses Blattes sei das Pater peccavi[11] Ihres treu ergebnen
W Windelband
Kommentar der Herausgeber
1↑Rümelin ] Gustav Rümelin (1848–1907), Sohn des gleichnamigen, Jurist. Ab 1867 Studium in Heidelberg und Tübingen, Kriegsteilnahme 1870/71, 1873/74 Prüfung für den württembergischen höheren Justizdienst, 1875 Habilitation in Göttingen. 1878 ao. Prof., 1878 o. Prof. für Römisches Recht in Freiburg. 1893 Vertreter der Universität Freiburg in der Ersten Badischen Kammer. Enger Freund Ehrenbergs (NDB; Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 264).2↑Werk ] wenn keine Anspielung auf die ungeschriebene Psychologie, dann auf den ersten Band der Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften, 1878.3↑„ersten Bandes“ ] von Windelbands Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften, 1878.4↑quasi re bene gestae ] lat. etwa: gleichsam als wäre alles vortrefflich getan (Meyers Konversationslexikon Bd. 16, 1908).6↑hier sehe ] vgl. Ehrenberg an Jellinek aus Freiburg vom 17.8.1878: In aller Eile die Mittheilung, daß ich während der nächsten Wochen in d. Schweiz u. ca. 8–14 Tage in Interlaken sein werde, wohin dann auch Freund Windelband gehen wird, mit welchem Du Dich des Näheren verständigen mögest. Denn natürlich kommst Du auch dorthin (Christian Keller: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek Briefwechsel 1872–1911. Frankfurt a. M.: Klostermann 2005, S. 309).8↑plötzlichen Zuschusses norddeutscher Juristen ] Anspielung nicht ermittelt; womöglich auf die Zusammensetzung der Freiburger Studentenschaft10↑Jellinek’s Buch ] Jellinek: Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe. Wien: Hölder 1878.▲